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Cover Lettre International, Magali Lambert
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Inhaltsverzeichnis

LI 123, Winter 2018

Universität des Unglücks

Von Krieg, Raum und Zeit und vom Sterben am Meer in La Rochelle

Heinz-Norbert Jocks: Wie kam Ihr Denken ins Rollen?

Paul Virilio: Auf diese Frage, wie ich zum Denken kam, gebe ich üblicherweise die oft nicht wirklich verstandene Antwort: Ich sei Autodidakt und durch die Erfahrung des Krieges zur Philosophie gekommen. Bereits in meinem ersten Buch schrieb ich, daß der Krieg, also die Verunsicherung des Territoriums, meine Universität, eine Universität des Unglücks war. Als Kind des Krieges im Alter von acht, neun oder zehn Jahren erfuhr ich die Relativität als Akt. Der „Blitzkrieg“, mit dem der Wahnsinn begann, war wie eine Erleuchtung in bezug auf die Welt. Dazu gehören die Transporte, die Panzer, die Bombenflugzeuge und die Blitzangriffe. Hiroshima ebenso wie Nagasaki. Am Anfang standen die Truppentransporte, die Übermittlung, die Strahlen und die Wellen. Obgleich ich die Zerstörung von Hiroshima, den Atompilz, nicht unmittelbar gesehen und von den Atombombenversuchen 1952 im Bikini-Atoll nur im Radio gehört habe, wirkten diese auf mich so stark, daß sie mein Denken entscheidend beeinflußt haben. Durch den Krieg wurde das Verhältnis zur Zeit ebenso relativiert wie die Beziehung zu den anderen. Alles Lebendige ist eng mit der Geschwindigkeit verknüpft. Auch im Sport, der nichts anderes als ein Wettkampf um die Macht ist. Das Holen einer Goldmedaille zielt auf das Erringen der Macht.

 

Aus Angst vor der Bombardierung floh Ihre Familie von Paris nach Nantes.

Die Wahl der Stadt Nantes als Zufluchtsort hatte damit zu tun, daß meine Mutter aus der Bretagne stammt, während mein Vater in Italien geboren wurde. Wir hofften, diese Stadt würde von Luftangriffen verschont bleiben. Doch es kam anders als gedacht. Eines Morgens erlebte ich zwei unvergeßliche Momente der Relativität und erfuhr, was Geschwindigkeit heißt. Diese ist kein Phänomen, sondern eine Beziehung zwischen Phänomenen. Um das zu verstehen, bedarf es keiner Relativitätstheorie. Es genügen Erlebnisse wie die in meiner Kindheit. Eines Morgens hörten wir im Radio die Nachricht vom deutschen Einmarsch in Orléans. Das war unfaßbar vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der in klar abgesteckten, überschaubaren Räumen von zehn, höchstens hundert Kilometern stattfand. Als ich gegen Mittag desselben Tages in der Rue St. Jacques südlich der Loire unerwartet ein seltsames Geräusch hörte, eilte ich hinauf zur dritten Etage auf den Balkon unseres Hauses und sah den Einmarsch deutscher Truppen. Links von mir der große, später bombardierte, die Ufer der Loire im Süden miteinander verbindende Pont de Pirmil. Vor mir die Lastwagen, Kettenfahrzeuge mit Truppen. Mich zu meinen Eltern, die gerade frühstückten, umdrehend, sagte ich: „Les boches!“ Das Unmögliche war doch möglich. Das plötzliche Auftauchen der Deutschen war die konkrete, physische Entdeckung des Blitzkriegs und lebensprägend. Ich erinnere mich noch an ein Ereignis während der Bombenangriffe der Alliierten im September des Jahres 1943. Bei schönem Wetter hatte mich meine Mutter losgeschickt, um LU-Kekse für die Kriegsgefangenen zu kaufen. Ich sollte mich schon einmal in die Warteschlange stellen, und später würde sie mich ablösen. Als sie kam, ging ich alleine zu einem Spielzeuggeschäft auf der Rue du Calvaire, um mir dort U-Boote und Stukas mit Propellern anzuschauen. Später am Nachmittag beim Spielen draußen wurde ich von der Bombardierung der Stadt durch die englische Luftwaffe überrascht. Auch unsere Straße wurde getroffen. Alles, was am Morgen noch stand, war in null Komma nichts dem Erdboden gleichgemacht. So, daß man vom Schloß der bretonischen Herzöge aus weit in die Ferne blicken konnte. Diese Plötzlichkeit totaler Veränderung ist der Inbegriff von Relativität. Ich erschrak auch, weil mir die Stadt zuvor als etwas Ewiges und so unumstößlich wie ein Felsen erschienen war. Was ich als Kind nicht begreifen konnte, war der Widerspruch, der darin bestand, daß wir mit den Besatzern, mit den Feinden, koexistierten, aber Rettung von denen erwarteten, die uns bombardierten. Bis heute beschäftigen mich die Ereignisse während der Besatzungszeit. Übrigens führte ich damals Tagebuch.

 

Was haben Sie damals noch gesehen oder erlebt?

Nicht weit vom Hospital St. Jacques entfernt Köpfe von Toten. Lastwagen bis zum Rand voll mit blutigen, toten Körpern, darunter deutsche wie französische Marinesoldaten. Da Sie nach Erlebnissen fragen, fällt mir noch etwas ein: Bei einem Angriff im Oktober 1941 auf die Kommandantur der Marinesoldaten wurde Karl Hotz, der Feldkommandant von Nantes, von Widerstandskämpfern getötet. Als Vergeltung wurden von der Vichy-Regierung Geiseln übergeben und hingerichtet. Mitten in der Nacht wachten wir auf und wurden Zeugen brutaler Szenen. Als wir mit ansehen mußten, wie überall auf der Straße wahllos Geiseln genommen wurden, versteckten wir uns in den Hinterhöfen. Eine kleine, von den Geiselnehmern übersehene Tür neben einem Ladenlokal in der Rue St. Jacques, die zu einem oberen Gebäudeteil führte, rettete unser Leben.
Meine junge Geliebte hatte weniger Glück. Wegen der Ausgangssperre durfte das Haus nachmittags nach vier Uhr nicht verlassen werden. Als sie dennoch den Balkon betrat, wurde sie von Marinesoldaten erschossen.

(…)

 

Sie sprechen von einem Götzendienst, den wir zu Ehren der Lichtgeschwindigkeit betreiben?

An die Stelle des göttlichen Lichts der Pharaonen in frühen Gesellschaften ist heute die Lichtgeschwindigkeit getreten. Alles, sogar die große Pleite der Lehman Brothers, ist dadurch bedingt, daß wir von der Lichtgeschwindigkeit beherrscht werden. Die Rede von einem Börsencrash ist falsch, da es sich um einen systemischen Zusammenbruch handelt, verursacht durch die Geschwindigkeit nicht mehr kontrollierbarer Quotierungen. Von daher sind die Ereignisse im September 2008 ein kybernetisches Phänomen, welches den Turbokapitalismus in die Luft gesprengt hat. Dazu paßt Dietrich Bonhoeffers Satz, der auf die Apokalypse ebenso wie auf den Jüngsten Tag gemünzt ist: „Die Technik hat dem Tag den Krieg erklärt.“

 

Apropos Krieg, warum spielt dieser in Ihrem Werk eine so zentrale Rolle?

Weil ich ein Kind des Krieges bin. Für Heraklit ist der Krieg der Vater aller Dinge. Und der Gott des Alten Testaments ein Gott der Armeen. Der Krieg ist konstitutiv sowohl für meine Biographie als auch für die Weltgeschichte und die äußerste Form der Konfrontation. Wer den Krieg so entschieden wie ich ablehnt, kann ihn als Konstante der Geschichte nicht übersehen.
Mit den Jahrhunderten hat sich die Kriegsführung gewandelt. Sie haben das Schlachtfeld als Wahrnehmungsfeld sowie als Wahrnehmungszentrum beschrieben.
Ja, insofern die Schlacht die Eroberung eines höher gelegenen Aussichtspunktes bedeutet. Wer diesen eingenommen hat, beherrscht die „Tele-Vision“, und dieser wird heute von Google und den Spionagesatelliten okkupiert. Der Krieg läßt sich darüber hinaus als Operationstheater mit Tricks, Taktiken und Strategien betrachten. Alles in allem ist der Krieg ein Wahrnehmungsfeld und war ehemals ein über die geometrischen Formen der Truppenbewegungen organisiertes Theater. Die alte Form der Kriegsführung, die sich mit einem Ballett vergleichen läßt, beruhte auf einer Komposition der Kräfte, bei der die Geschwindigkeit der Kavallerie mitentscheidend war. Clausewitz beschreibt den Augenblick, wo sich die Form des Kriegs zugunsten einer Asymmetrie auflöst und der Krieg zu einem asymmetrischen wird. Damit hat er bereits den Guerillakrieg analysiert. Sein Satz vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln impliziert, daß der Krieg noch eine Form aufweist.
An die Stelle der Form des Krieges ist heute dessen Darstellung getreten. Deshalb spielen die Eroberung des Luftraums, das Ringen um die Luftüberlegenheit, der Wille zur Beherrschung des Weltraums mittels Satelliten, die Herrschaft durch die „Medialoskopie“, also die totale Sicht auf die ganze Welt, eine so immens wichtige Rolle. Der Krieg erscheint auf dem Bildschirm als Operationstheater, wobei die Eroberung der Emotionen der Tele-Öffentlichkeit wichtiger ist als die Eroberung des Territoriums. Daß Kriege trotz der Belagerung des Territoriums verloren werden, belegen die Kriege in Afghanistan und im Irak. Da wurde das Operationstheater in die Höhen verlagert. Meine Kritik an der Architektur der Wolkenkratzer hat genau damit zu tun. Stand die Architektur ursprünglich für Maß, steht sie heute für Maßlosigkeit im globalen Wettbewerb. In gewisser Weise symbolisiert der Wolkenkratzer die Eroberung des Luftraums. Mehr und mehr weitet sich diese in den Weltraum aus.

(…)

 

In Ihrem Buch Die Verblendung der Kunst zitieren Sie den Talmud: „Ein Mensch, der keinen Boden unter seinen Füßen hat, ist kein Mensch.“

Ja, im Zeitalter der Deterritorialisierung und Delokalisierung befindet sich der Mensch auf dem Fallschirmsprung nach oben. Wir entwickeln uns mehr und mehr zu Diaspora-Gesellschaften. Das sage ich nicht als Territorialist und erst recht nicht als Nationalist. Schon deshalb nicht, weil mein Vater Immigrant war. In meinem Buch Essai sur l’insécurité du territoire über die Unsicherheit des Territoriums setzte ich mich mit der Erdverbundenheit des Menschen und dem Verlust der Ortsbindung durch die Herrschaft der Tele-Technologien auseinander.
Als ich an einem Monument mitarbeitete, das in Japan gebaut werden sollte, sagte ich, das Wort „human“ sollte durch „Humus“ ersetzt werden, denn die Erde sei unser Ursprung und wir seien aus Staub gemacht. Also erdgebunden und Erdbewohner im Sinne von Edgar Morin oder Michel Serres. Der Begriff der Territorialität ist heute nicht aus grundrechtlichen oder religiösen Gründen, sondern deshalb von großer Aktualität, weil wir durch unser Auf-der-Welt-Sein bestimmt sind. Deshalb kritisiere ich in Die Universität des Desasters die Behauptung von Stephen King, die Menschheit habe nur dann eine Zukunft, wenn sie einen anderen Planeten zum Leben entdeckt. Obwohl sich die Erde dreht, befinden wir uns in einem alarmierenden Zustand der Bewegungslosigkeit, des „rasenden Stillstands“, wie ich es nenne.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.