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Cover Lettre International 94, Robert Longo
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LI 94, Herbst 2011

Augen weit geschlossen

Theater um Europa, Theater in Europa - Gedanken zur aktuellen Krise

(…) Das Spiel der Spiele, Europas Welttheater, beginnt mit einem Fanal. Die Perser des Aischylos, das erste uns überlieferte Drama der Antike, wird bei den Dionysien, den Athener Festspielen des Jahres 472 v. Chr. am Fuß der Akropolis uraufgeführt. Ein junger Mann namens Perikles fungierte neben dem Autor Aischylos als Organisator der großen Chorszenen. Jener Perikles, der später zum berühmtesten Staatsmann der griechischen Antike aufsteigen wird: zum attischen Strategen; ein Mächtiger, der durch seinen Architektenfreund Phidias auf der Akropolis den Parthenontempel für die Stadtgöttin Athena bauen läßt.

Die Stadt, die Polis, die Kunst – im Zentrum das Theater. Der Auftakt in der Geschichte des Dramas ist ein Geschichtsstück. Es handelt nicht wie die Orestie oder die Dramen von Sophokles und Euripides vornehmlich von mythischen Menschen, sondern von realen Herrschern, historischen Figuren. Im Zentrum steht der Perserkönig Xerxes, geschildert wird das Scheitern der persischen Flotte beim Angriff auf das griechische Festland. Der große Kunstgriff hierbei: Das allererste Kriegsstück der Menschheitsgeschichte feiert nicht etwa den eigenen Sieg der Griechen über Xerxes und die Perser in der Seeschlacht von Salamis acht Jahre zuvor. So sehr man daraus auch eine Warnung für alle künftigen Gegner der Hellenen lesen mag – dieses tragödische Drama ist kein patriotischer Triumphgesang und kein pazifistisches Menetekel. Aischylos zeigt den furchtbaren und entsetzlich schön geschilderten Schrecken des Krieges und betrauert dabei den Untergang der Perser, den Tod des großen Feindes.

Das Spiel des Mächtigen und sein Fall, durch menschliche Hybris. Aber dargestellt mit unsentimentaler humaner Empathie. Wäre so etwas heute noch vorstellbar?

Der Vergleich erscheint fast unzulässig, er wirkt über zweieinhalbtausend Jahre hinweg halbseiden. Doch wir leben nie ohne Vergleich, wir können überhaupt nicht denken, ohne immerzu zu vergleichen. Wenn Zukunft Herkunft braucht, wie Odo Marquard sagt, dann braucht es die Erinnerung; und auch Erinnerung – ohne die es kein Theater gäbe – schafft den unwillkürlichen Vergleich mit der Gegenwart, findet nur in ihm und ihr die jeweilige Form.

(…)

Natürlich ist das Theater längst in die Funktionale des allgemeinen Kulturbetriebs gerutscht und aus der Mitte der Polis, der Politik und der bildungsbürgerlichen Restgesellschaft gefallen. Das Theater ist in Europa lange nicht mehr das zentrale öffentliche Forum der kulturellen, poetisch-philosophischen oder gar politischen Selbstverständigung. Es ist zu einem künstlerischen Medium neben anderen konkurrierenden Medien geworden; es hat kein relativ homogenes Publikum mehr, denn in der komplexen Massengesellschaft entsteht eine Vielzahl von Publika – eine Pluralität, die dem Theater neben Unübersichtlichkeit und Orientierungsschwäche auch neue Freiheiten und Chancen eröffnet.

Trotz aller drohenden Beliebigkeit gibt es für das europäische Schauspiel indes noch ein letztverbindendes geistiges Band. Philosophie und Theater haben die Idee der Demokratie und des Rechtsstaats geboren. Am Ende der Orestie des Aischylos greift die Göttin Athene in das scheinbar ewig tragische Verhängnis der Blutrache ein, stiftet den Gedanken der Vergebung und die Prozedur einer ersten juristischen Abstimmung. Aus den mythisch-religiösen Erinnyen wird eine schier säkulare, menschliche Gerichtsjury. Später konfrontiert Sophokles in seiner Antigone Staatsräson und Gemeinwohl mit individueller Moral und personalem Schmerz im Antagonismus zwischen dem Herrscher Kreon und der widerständigen Jungfrau Antigone. Wobei der tragische Konflikt unheilbar bleibt, ähnlich wie in den beiden Ödipus-Dramen.

Das dramatische Theater bildet als kollektive Kunstform auch ein Stück Gesellschaft im Inneren dieses Kunstbetriebs, mit Mächtigen und weniger Mächtigen. Als Hauptmachthaber gelten heute die Regisseure. Das Publikum, ohne das es kein Theater gäbe, ist seinerseits ein Ausschnitt der Gesellschaft; deshalb bedeutet Theater ein Stück sozialer Kommunion und Kommunikation. Anders als das Schreiben von Büchern oder das Malen von Bildern, das einsam und notfalls ausschließlich für die Nachwelt geschehen kann, kennt das Theater, immer hier und jetzt, keine Nachwelt. Es braucht die Mitwelt.

Von der Antike über die Aufklärung, den Idealismus, die Ismen bis zu Postmodernismen und sogar bis zur neuen, mit rollenlosen schieren Textflächen spielende sogenannte „Postdramatik“ gilt im Kern immer noch, was von Aischylos bis Achternbusch, von Lessing und Schiller bis Müller und Jelinek, von Kleist bis Botho Strauß zum Grunde des Theaters gehört: Als notwendig öffentliche Kunst führt es Privatheit und Politik, Poesie und Geschichte, Individuum – und sei es nur seinen Schatten – und die Gesellschaft – und wäre es nur noch ihr Schatten – auf spielerische Weise zusammen. Und sei es auch: im Bild ihres allseitigen Zerfalls.

(…)

Im Zentrum des europäischen Schauspiels zwischen London und Moskau, Paris und Athen steht, trotz aller Verfremdungen und Dekonstruktionen, noch immer das von Schauspielern verkörperte Drama. Die Stücke, wenn denn literarische Texte (zunehmend auch Romanadaptionen) gespielt werden, handeln von Menschen, von menschlichen Konflikten; der Mensch ist nun mal eine alte Erfindung. Solange er biotechnisch noch nicht zum Androiden, zur Chimäre oder zum Cyborg mutiert ist, bleibt es bei seinen fünf Sinnen und bleiben die Autoren bei den durch alle Zeiten gleichen, unerschöpflichen Grundthemen: Liebe und Haß, Krieg und Frieden. Im Lachen wie im Weinen. Weiterhin geht es um Georg Büchners biblisch alte, topmoderne Frage, was das ist, „was in uns lügt, hurt, mordet, stiehlt“.

Auf diese Voraussetzungen läßt sich heute nicht mehr selbstverständlich bauen. Im deutschsprachigen Theater (ähnliche Tendenzen gibt es auch in Osteuropa oder Italien) hat sich seit einigen Jahren etwas fundamental geändert, auch gegenüber der einstigen Regierebellengeneration eines Peter Zadek, Peter Stein oder anderer Protagonisten der Achtundsechziger. Zahlreiche jüngere und mittelalte Regisseure und Regisseurinnen setzen sich weniger mit geschriebenen Texten reibungsvoll auseinander als freihändig über sie hinweg. Stücke sind – nach Heiner Müller – nur noch „Material“, das assoziativ verarbeitet, gemixt und gesampelt wird. Auch diese Dekonstruktion kann eine Komposition ergeben, ein szenisches Konstrukt – dessen Raffinesse oder Haltlosigkeit jedoch nur genaue Kenner der ursprünglichen Texte beurteilen können. Oft spricht das Theater dann eine vom Drama und seiner Geschichte losgelöste, selbständige Sprache. Das allerdings birgt die Gefahr einer schieren Selbstreferentialität. Peter Handke hat dies einmal als „Theatertheater“ bezeichnet.

Die Dekonstruktion des dramatischen Textes und seine Verwandlung in ein „postdramatisches“ Spiel radikalisiert gleichsam Brechts episches Theater der – mehr theoretisch formulierten als von Brecht selber je praktisch vertieften – Verfremdung des identifikatorischen Rollenspiels. Wenn Schauspieler statt eines einzelnen Charakters nur dessen ins Heutige übersetzte Abwandlung und Kommentierung vorführen, agieren sie mehr als Conférenciers denn als Darsteller ihrer Rollen, die sie oft auch noch untereinander wechseln: begleitet von verdoppelnden Videobildern, digitalen Live-Acts und Popmusik. In jedem Fall sollen die Bühnenfiguren damit reflexiv gebrochen und „aktualisierend“ nahegebracht erscheinen. Mit dieser Erweiterung der technischen Mittel werden allerdings die inhärenten ästhetischen Probleme vielfach nur überspielt. So ist ja den dramatischen Personen von Shakespeare, Kleist oder Büchner, von Ibsen, Horváth oder, ein Sprung, von Beckett oder Albee die Selbstentfremdung, ihre psychische, sexuelle, soziale Dissoziation und Verstörung bereits eingeschrieben. Dieser antizipierende poetische Subtext aber kommt nun mangels Haupttext kaum noch zum Vorschein, und im Verblassen der antagonistischen Struktur des Dramas löst sich auch das Gesellschaftliche auf im Gestus einer quasi spontanen, privaten Kommunikation. In Konkurrenz zu den elektronischen Unterhaltungsmedien, auf die postdramatisch-dekonstruktive Inszenierungen ihrerseits kritisch-ironisch zu rekurrieren suchen, droht das Theater so seine ureigenen Stärken zu verspielen.

Statt gesellschaftliche, politische Reflexionen auf das Spiel der Mächtigen zeigt es, politisch und poetisch ohnmächtig, oft nur noch ein Spiel von Selbstgefälligen.

Die szenische Auseinandersetzung mit einem nicht ins totale Heutige ausgedünnten Text könnte jedoch noch politische Funken schlagen. Im Fall der Iphigenie des Euripides passiert dies, wenn der Zuschauer in den zweieinhalbtausend Jahre alten Mythen und Metaphern plötzlich ihre geisterhafte Gegenwärtigkeit erkennt. Das kann ein Erkenntnisschock sein, der tiefer rührt als jede aktuelle Nachricht oder Meinung. Dies berührt, als Erkenntnis, auch den Unterschied zwischen einer schieren Informations- und einer Wissensgesellschaft.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.