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LI 148, Frühjahr 2025

Das Verdammte

Eine kurze Besichtigung des Langen 19. Jahrhunderts

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Aber was macht eigentlich die Verdammnis des 19. Jahrhunderts aus? Nietzsche hat dafür die Formel „Gott ist tot“ gefunden, man muß sagen: wiedergefunden. Er wußte ja, daß diese Formel in der Scholastik eine Disputationsfigur war. Nietzsche fand diese Mine und schärfte sie neu, indem er die Theologie vom Himmel auf die geschichtliche Erde holte. Nicht daß er den endgültigen negativen Gottesbeweis gefunden hätte – die Menschheit brauchte ihn einfach nicht mehr. Sie hatte etwas Besseres als Gott: die Geschichte oder Genealogie, so daß der geschichtliche Umgang mit Sprache (Semiotik) interessant wurde. Die Sprache wurde für Nietzsche zu einem Werkzeug der Wissenschaft vom Menschen überhaupt – zu einer Optik, wie es in einem seiner Nachlaßfragmente heißt: „Alle unsere Relationen, mögen sie noch so exakt sein, sind Beschreibungen des Menschen, nicht der Welt: es sind die Gesetze dieser höchsten Optik, von der uns keine Möglichkeit weiter führt. Es ist nicht Schein, nicht Täuschung, sondern eine Chiffrenschrift, in der eine unbekannte Sache sich ausdrückt, – für uns ganz deutlich, für uns gemacht, unsere menschliche Stellung zu den Dingen. Damit sind uns die Dinge verborgen.“

Nur für Gott liegen alle Relationen der Welt offen vor Augen; für den Menschen gibt es nur noch die Wahrheit, die in den Irrtum eingefaltet, von ihm umhüllt ist. In der Welt der Neuzeit, der Welt von Leibniz, ist alles mit allem verbunden, aber hat seinen Vermittler in Gott. Im Langen 19. Jahrhundert gibt es nur noch Kommunikation, die den Menschen die Wahrheit offenbart und gleichzeitig verschließt – das Kommunikationsmodell des Hermes, der vom Vermittler zum Parasiten wird, der Nachrichten besetzt, umleitet, abzweigt oder im Hintergrundrauschen ertrinken läßt. 

Der Parasit ist die Falte bei Leibniz abzüglich Gott. Damit befinden wir uns gleichsam auf der offenen See, und man kann sagen, daß das 19. Jahrhundert der Versuch ist, wieder festes Land zu finden. Die Bestimmungen schwanken: Die Juden sollen citoyens werden, aber aufhören Juden zu sein; Frauen, die als Künstlerinnen in Akademien waren, werden aus ihnen wieder ausgeschlossen; der Adel wird abgeschafft, Napoleon erfindet ihn neu (die Idee der „Rassereinheit“ ruiniert ihn vollends); das Ende der Klassen und Stände, vereint in Brüderlichkeit, mündet in sozialer Differenz; und wer niemand war, soll Alles werden, wie die Internationale singt; und das Ende der Kabinettkriege mündet in Weltanschauungs- oder „Ausrottungskriegen“. Und schließlich: Geschichte wird nicht mehr durchgemacht, sie wird „gemacht“. 

Das Offene schließt sich. Was auch sein Gutes hat, denn so verbessert sich auch die Hygiene. Allerdings verschwindet auch der Spleen, in welchem Kant für das menschliche Individuum noch einen Ausdruck von Humanität sah, der nunmehr von pathologischen Bestimmungen umstellt wird. Das Verschwinden überhaupt ist ein Signum des 19. Jahrhunderts: Die Malerei verschwindet in der Photographie, und die Photographie in der Malerei, oder sie zeigt, was noch nie jemand sah, zum Beispiel Geschosse im Flug. Alles wird gut, wenn es nur nützlich ist, das heißt dem Leben dient; aber das Leben, seiner selbst undurchsichtig, lebt in der ästhetischen Nähe des Todes, wodurch es sich fatalerweise erst durchsichtig wird wie im Werk Richard Wagners. Die Grenze zwischen Gut und Böse verschwindet und macht einer Verschränkung Platz, die das Leben in Bewegung hält. Grenzen verschwinden überhaupt – zwischen Bewußtem und Unbewußtem, „das Ich ist nicht mehr Herr in seinem Haus“ (Freud). Die Zeit steht still, weil alle Uhren gleichlaufen (Eisenbahn). Maße sind dem menschlichen Maß (Elle) enthoben, in Paris liegt das Urmeter: die Erfindung der Statistik. Für das Christentum, sagt noch Hegel, hat das Individuum „unendlichen Wert“. Das Christentum ist in der Welt, nicht von dieser Welt, aber diese Welt wird kollektiv, The Man of the Crowd: Massenmensch. Vor diesem Horizont wollen wir näher zusehen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 149 erscheint Mitte Juni 2025.