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Cover Lettre International 47, John Baldessari
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LI 47, Winter 1999

Metaschuld

1999 - Das Jahr der Unverjährbarkeit

(...)Mensch ohne Menschen, o Nzuka!

Das bin ich, ich Lamadani,

Der ich ein Mensch ohne Menschen bin, ich selbst"

(...)

Das chronisch verschuldete Europa: Ich heiße Europa und ich bin kolonienabhängig, ich brauche Kolonien wie den Alkohol, ich bin Alkolonialiker (je suis alcoloniale). Danach würde es nicht darum gehen, Europa zu heilen, indem man es wiederherstellt - selbst nicht auf imaginäre Weise, indem man es in Form einer magischen Nation mit Einheitswährung „wiedererfindet"- , sondern darum, dafür zu sorgen, daß es sich gegenüber dem unauflöslichen Band seiner Phylogenese, also seiner Onto-Ethik solidarisch, d.h. als Gesamtschuldner verhält. Das ist es dem Nicht-Europa schuldig. Gewiß, eine exorbitante und natürlich unbezahlbare Schuld, doch es ist heute höchst solvent. Es zahlt wenig.

Schlimmer noch, der Raubzug geht weiter. Eine Frage der Jugend und der Geburten, die zu fehlen beginnen. Europa und sein neues Goldenes Dreieck: der neue materialistische Zentrismus, der Outsourcing betreibt und die Arbeitslosigkeit steigert; die Ursache für den Extremismus seiner Inländer-die-sich-von-der-Entlassung- bedroht-fühlen; doppelte Ursache dafür, daß sich seine neue Kleptomanie - sich immigrierende Jugend zu klauen - als Toleranz verkleidet.

Und dann gibt es da noch die Welt. Ist es nicht langsam an der Zeit, daß sich Europa über seine strikten Bedürfnisse nach stabilen Märkten hinaus um sie sorgt? Der Rest der Welt, die ganze wirklich feine, d.h. schöne Welt (bien du beau monde), die einem nicht egal sein darf, viele Menschen, die niemanden auf der Welt haben (beaucoup de monde qui n'a personne au monde).

(...)

Doch handelt es sich wirklich um eine Schuld? Schlicht und einfach um eine große Schuld? Eher um eine Metaschuld, da man von ihr trotz der „eingegangenen Bindungen" (lien contractés) - die man sich wie ein Laster angewöhnt (contractés) hat - nicht einfach in der Begrifflichkeit des Vertrags sprechen kann. Denn für die Geschichte gibt es kein vertraglich geregeltes Gesetz (loi contractuelle). Ein alter Schwindel der Rechtsprechung, den es zu untersuchen gilt.

Die ganze Kunst der industriellen - und heute juridischen - Moral Europas bestand - und besteht - darin, das statutarische Band, das die Meta-Verschuldung schafft, schlicht und einfach dadurch zu sprengen, daß sie der Gläubigerpartei ein für alle Mal jeglichen Status als Partei abspricht. Eine Einseitigkeit, die die Gerechtigkeit annulliert, da es der ehemals ganz offiziell rassistischen Episteme erlaubt wird, sich den Genuß der Apanage aus dem Raub genehmigt zu haben; eine Einseitigkeit, die die Gerechtigkeit annulliert, da es der nachfolgenden, der Episteme-des-Sohnes (épistémê-fils) erlaubt wird, von der Einseitigkeit ihres Vaters zu profitieren, indem sich diese in seine eigene „Vergangenheit" geflüchtet (enfui), ja in sie vergraben (enfoui) hat. Wer aber legt für die Geschichte des Rassismus fest, daß sie nicht vor Gericht zu erscheinen braucht?

Dieses Konzept des Nichterscheinens vor Gericht (contumax zéro), auf das sich das Post-Sklavenhalter-Europa so klar und lauthals beruft, macht es möglich, daß der Sklaverei heute keine rückwirkende vertragliche Grundlage auferlegt wird, da ja diese Episteme zum Beispiel den Afrikanern jeglichen Status einer moralischen Person abgesprochen hat. Es ist also dieselbe rassistische Episteme, die weiterhin dafür sorgt, daß der Vorschlag einer Antwort, einer Verantwortung, einer Wiederherstellung des Status, einer Restitution, einer Reparation gar nicht erst zur Sprache kommt. Ein Vertrag, sagt der frühere Rassismus unter seiner heutigen Maske, war unvorstellbar und muß es also bleiben: auf der anderen Seite gab es niemanden, also gibt es weiterhin niemanden.

(...)

In einem anderen Zeitalter würde das Primat der Vernunft an diesem Punkt meiner Ausführungen für ein langes, überzeugendes Plädoyer sorgen über die ethische, geistige, transzendentale, praktische, ökonomische Notwendigkeit, die immanente Gerechtigkeit, die, was weiß ich, Europa zwingen würde, folgenden Prozeß zu initiieren: den sofortigen und vollständigen Erlaß aller Schulden der ehemaligen Kolonien.

Dies drängt sich allerdings ohnehin auf. Es wird stattfinden müssen. Auch ohne jedes Plädoyer.

Die einzige historische Geste, die einen Sinn hätte. Die einzige Position an der Schwelle zum neuen Jahrtausend unter den neuen Bedingungen einer ein(zig)en und unteilbaren, ein-(zig)en und unverjährbaren bzw. unantastbaren Menschheit und Menschlichkeit. Das einzige Ereignis, dessen Folge wirklich eine Chance hätte, die derart verdrängten Verbindungen Europas zu seiner Vergangenheit und seinem Anderen nicht länger mit Schweigen zu übergehen. Der Beginn einer wirklichen Übertragung dieser Schande auf den Histanalytiker.

(...)

,,O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht."

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.