LI 128, Frühjahr 2020
Die orientalische Frage
Goethes Weltliteratur, Saids Orientalismuskritik und ein blinder FleckElementardaten
Textauszug
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Die Frage nach dem Orient kann keine unschuldige sein. Ihre Anfänge reichen bis in die Goethezeit. Im 19. Jahrhundert war viel von „The Eastern Question“ die Rede. Es war eine typisch koloniale Frage, und sie handelte davon, wie mit der letzten verbliebenen muslimischen Großmacht umzugehen sei, dem Osmanischen Reich. Bei der Antwort darauf spielten die Osmanen, die Vorfahren der heutigen Türken, freilich keine nennenswerte Rolle. Sie wurden nicht gefragt. Die Frage nach dem Orient machten die Europäer untereinander aus.
Eine solche Frage signalisiert bereits eine Distanz. Wer fragt, gehört nicht ganz dazu. Die orientalische Frage, von einem überlegenen Europa aufgeworfen, konnte für den Orient also nichts Gutes bedeuten. Die orientalische Frage lautete, wie das Osmanische Reich bei lebendigem Leib „gerecht“ unter den europäischen Großmächten aufgeteilt werden konnte. In mancher Hinsicht lebt diese alte orientalische Frage bis heute fort, vor allem in Gestalt des nach wie vor ungeklärten europäischen Verhältnisses zur Türkei.
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Bereits zu Lebzeiten Hammers und Goethes zeichnet sich auch das europäische Orientbild durch eine zunehmende Janusköpfigkeit aus. Einerseits offenbarte sich, zumal in Kunst, Literatur und Musik, ein idealer, guter, inspirierender Orient. Das war ein rein geistiger, imaginärer und imaginierter Orient. Dieser war die Leidenschaft einer kleinen Gruppe von Literaten, Komponisten, Malern, Philologen, Denkern und Außenseitern. Dem stand der Orient entgegen, wie ihn die europäischen Politiker, Militärs und Geschäftsleute sahen. Von ihnen wurde der Orient als problematisch, störend, ja abstoßend aufgefaßt. Er sollte daher reformiert und europäisiert werden oder aber auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Die Idee des kaputten Orients, über dem die Geier kreisten und den Europa unter sich verteilen wollte, war die Obsession des Mainstreams, beschäftigte Politik, Presse, Debattierclubs, Militärs und Abenteurer. Er war das Thema der orientalischen Frage.
Heute wird gern verdrängt, daß dieser breite Strom der Ausgrenzung und Abwertung des Orientalischen auch die europäischen Juden betraf, die trotz aller Emanzipationsbemühungen als der Orient im Okzident, als das problematische Fremde im Eigenen galten, eine Rolle, die heute den Muslimen zugeschrieben wird.
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Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde die Türkei von den Alliierten besetzt, ganz ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland. Hätte Atatürk den Befreiungskrieg nicht gewonnen, gäbe es heute vermutlich keine Türkei. Aber der Preis für die Vertreibung der europäischen Besatzungsmächte war der Versuch der gleichzeitigen Vertreibung des Orients aus der Türkei, war die brutale Europäisierung des Landes, nur daß diese nun nicht von den Europäern, sondern von der türkischen Elite selbst vorangetrieben wurde, was weniger schmachvoll war, aber auf dasselbe hinauslief. Diese Vertreibung des Orients aus dem Orient selbst ging, dem Narrativ nationaler Homogenität entsprechend, mit einer gewaltsamen Vertreibung derjenigen einher, die nicht der Idee von einer homogenen Nation entsprachen: zuerst mit dem Genozid an den Armeniern, dann mit der Vertreibung der Griechen, die im Rahmen eines sogenannten Bevölkerungstauschs mit den in Griechenland lebenden Türken in den zwanziger Jahren deportiert wurden, ferner, nach der Gründung Israels, mit der allmählichen Vertreibung oder freiwilligen Auswanderung der Juden aus der Türkei. Heute sind es die Kurden, die als angeblich dem Staat fremde Elemente aufgefaßt und unterdrückt werden. Auch und gerade die vermeintliche neo-osmanische Renaissance, die von Präsident Erdoğan betrieben wird, kann zur Völkervielfalt des Osmanischen Reiches und seiner polyglotten, kosmopolitischen Hauptstadt Istanbul kein positives Verhältnis mehr herstellen; auch und gerade die Regierungspartei AKP bleibt, von ihrem geistigen Horizont her, eingeschlossen in der anatolischen Provinzstadt Ankara, die Atatürk zur Hauptstadt machte nicht nur, weil sie außerhalb der Reichweite der alliierten europäischen Truppen lag, gegen die er Krieg führte, sondern weil sie anders als die Weltstadt Istanbul das reine und authentische Türkentum zu verkörpern schien. Daß Erdoğan sich auf den Islam beruft, macht die Vertreibung des Orients aus der Türkei nicht rückgängig. Denn die treibende Kraft auch bei der religiösen Rückbesinnung bleibt der türkische Nationalismus, der, wie jeder Nationalismus, in scharfem Widerspruch zu dem Begriff und der Realität des Orients steht, wie Rückert und Goethe ihn gekannt und gesehen haben (oder negativ Paul de Lagarde, der Antisemit aus nationalistischen Motiven).
Fortan war der Orient selbst für die Orientalen, für die Türken, nur noch eine imaginäre Größe – und ist es bis heute, wie am allgegenwärtigen Orientkitsch, besonders deutlich an neuen Moscheen, überall in der islamischen Welt abzulesen ist.
Karawanen und Eisenbahnen, Orient und Nationalstaat, Vormoderne und Moderne, Poesie und der Rhythmus der Maschinen sind gemäß der von Europa in die Welt hinausgetragenen Ideologie (ich habe sie „die Ideologie des Westens“ genannt) unvereinbare Gegensätze, die sich bekämpfen müssen, bis einer von beiden gewinnt, der andere geschlagen, vernichtet, ausgerottet, vertrieben ist.
Die „Orientalische Frage“ endete im Nahen und Mittleren Osten damit, daß sich der Orient auto-europäisierte; in Europa endete sie mit dem Holocaust.
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Wenn wir den andern in seiner Andersartigkeit schön finden, also den Orient schön finden, weil er die Vormoderne, die Poesie und all das repräsentiert, was wir bei uns nicht mehr finden, was machen wir dann, wenn der Orient unter dem europäischen Reformdruck dieser poetische, langsame, vormoderne Orient nicht sein will? Wenn er kein Fremder, Anderer, Asiate, kein Orient mehr sein will, sondern lieber werden möchte wie wir?
Dann besteht die Gefahr, daß unsere Verehrung blitzschnell in Enttäuschung umschlägt, so wie man desillusioniert sein wird, wenn man mit romantischen Orientbildern in den Nahen Osten reist und nichts als Hochhäuser, Autobahnen und von internationalen Stararchitekten gebaute Flughäfen erblickt. Wozu braucht man einen Orient, der längst keiner mehr ist?
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Die Frage stellt sich nicht weniger dringlich, wenn wir statt von Technik von Politik reden. Die Welt in Gestalt von Nationalstaaten neu zu ordnen ist eine durch und durch moderne und europäische Idee, die inzwischen (mit Ausnahme der Antarktis) auf der ganzen Welt Wirklichkeit geworden ist. Sie war anfangs begleitet von Hoffnung, der Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Gefahren und Problematiken, die dadurch aufgeworfenen Spaltungen, Trennungen, Brüche waren nur wenigen bewußt (einer von diesen war Goethe). Sogar den Orient in Nationalstaaten neu erstehen zu lassen war offizielle westliche Politik spätestens seit dem berühmten Vierzehn-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson von 1918 (vor allem den Punkten 12 und 13, welche die Gebiete des Osmanischen Reichs direkt betrafen). In weiten Teilen der islamischen Welt wurde diese Idee begeistert aufgegriffen. Wieder einmal zeigte sich der Orient als ein gelehriger Schüler des Westens. Der große, 1930 geborene syrische Dichter Adonis schrieb bereits 1968:
Der Orient stellte kindliche Fragen
Während der Westen für ihn
Ein Weiser war, der nie irrt.
Heute ist der Nationalismus fast überall in der islamischen Welt ebenso ausgeprägt, wenn nicht ausgeprägter als in Europa. Nur leider: Der weise Westen irrte, besann sich irgendwann eines besseren, und versucht seither vorsichtig, den Nationalismus zu bändigen, offenbar ohne Erfolg. Während der Nationalismus auflebt – und weil er wieder auflebt –, fliegen uns die vom ihm gezogenen Grenzen heute um die Ohren, besonders im Orient. Das Gedicht von Adonis endet wie folgt:
Doch die Landkarte hat sich geändert
Nun ist die Welt entflammt
Und Orient und Okzident
Sind ein Grab, aufgehäuft
Aus beider Asche.
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