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Cover Lettre International 58, Laszlo Kerekes
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Inhaltsverzeichnis

LI 58, Herbst 2002

New York, ein Jahr danach

Kriegsrhetorik, Interessenpolitik, psychologische Belagerung

Krisenmanagement

Zwei starke Mächte haben sich verbündet, um die Amerikaner um den letzten Nerv zu bringen. Auf der einen Seite das Team des Weißen Hauses. (In diesem Fall kann man eine Regierung nicht wie üblich mit dem Namen ihres Führers personifizieren und umreißen, denn George W. Bush hat genau dasselbe Verhältnis zur Politik seiner Regierung wie Britney Spears zu den Unternehmungen des Coca-Cola-Konzerns.) Wie alle despotischen Regime – und ich benutze dieses Wort nicht leichtfertig – hat diese Regierung erkannt, daß der beste Weg, sich die Unterstützung durch das Volk zu sichern, der ist, innere und äußere Bedrohungen der Gesellschaft zu übertreiben. Auf der anderen Seite stehen die hochgepushten und hysterischen 24-Stunden-Nachrichtenmedien mit ihrem dauernden Bedarf an weiteren Sensationen, damit ihre Zuschauer wie festgefroren vor den Fernsehgeräten hocken bleiben. Gemeinsam haben die beiden eine Art Technoexaltation über das Beunruhigende und Angsterregende losgetreten, bei der jede neue künstliche Panik nahtlos in die nächste übergeht und die Erinnerung an die vorherige auslöscht.

Man hat uns den letzten Nerv geraubt, weil seit vielen Wochen alle zwei oder drei Wochen das FBI oder dieser bizarre christlich-fundamentalistische Justizminister, John Ashcroft, ankündigen, daß ein weiterer terroristischer Angriff "unmittelbar" bevorstehe, mit "Sicherheit" aber in den nächsten Tagen oder an diesem oder dem kommenden Wochenende. Und damit kein Amerikaner sich behaglich fühlen konnte, wurden die Ziele übers ganze Land verteilt: die Golden Gate Bridge, der Sears Tower, das Lincoln Memorial, Disney World, die Freiheitsglocke in Philadelphia und sogar, Gott bewahre, die Universal-Studios. Ashcroft, der sich allem Anschein nach den Film Botschafter der Angst allzuoft angesehen hat, warnte in regelmäßigen Abständen vor "Schläferzellen" von al-Qaida-Terroristen, die anonym, vielleicht gleich nebenan, existierten und jeden Augenblick geweckt werden könnten. Fast jeden Tag wurden Flughäfen evakuiert, Einkaufszentren geräumt oder der Verkehr, durch Kontrollpunkte geschleust, stundenlang zum Stehen gebracht.

Man hat uns den letzten Nerv geraubt, weil in den ersten Wochen nach dem 11. September die Medien endlos auf den Möglichkeiten und Folgen terroristischer Angriffe mit biologischen

Waffen, vor allem mit Milzbranderregern, herumhackten. Wie vorherzusehen war, brachte das irgendeinen auf Nervenkitzel geilen Sonderling – eine stereotype Figur in Amerika – auf die Idee, Milzbrandviren mit der Post zu verschikken und so Furcht und Schrecken bei all den Bürgern zu verbreiten, die nicht in unmittelbarer Nähe zu historischen Denkmälern und Themenparks leben. Wie gleichfalls vorherzusehen war, erklärten das Team des Weißen Hauses und die lakaienhaften Medien dies zu einem Werk arabischer Terroristen, obwohl vom ersten Tag an klar war, daß die vergifteten Briefe von einem unserer eigenen Timothy McVeighs oder Unabombertypen abgeschickt worden waren – ein internationaler Terrorist würde Milzbranderreger in der Washingtoner U-Bahn freisetzen, aber er würde sie nicht an ein kleines Klatschblatt schicken, das in den Supermärkten der amerikanischen Provinz populär ist. (Und jetzt wissen wir, daß das Team des Weißen Hauses so darauf versessen war, eine Verbindung zum Irak zu finden, daß es dem FBI – das ohne Hilfe von außen völlig unfähig ist – tatsächlich untersagte, inneramerikanischen Spuren nachzugehen.) Es dauert immer noch Monate, bis ein Brief bei irgendeiner Dienststelle der Regierung ankommt, weil all deren Post erst wie ein amerikanisches Dinner in einer Mikrowelle erhitzt werden muß.

Man hat uns den letzten Nerv geraubt, weil die heimliche, ohne Gerichtsbeschluß durchgeführte Verhaftung und Abschiebung von Tausenden von Menschen (die genaue Zahl ist unbekannt) wegen ihres Verbrechens, aus dem Nahen Osten zu stammen oder dunkelhäutig zu sein oder an einem öffentlichen Ort eine fremde Sprache zu sprechen – eine Gruppe, die auch israelische Juden und indische Sikhs umfaßte –, nicht nur für muslimische Amerikaner schrecklich war, sondern auch für Millionen legaler und illegaler Einwohner nichteuropäischer Herkunft. Unter den Lateinamerikanern, mit denen ich sprach – arme Leute mit einer sehr nebelhaften Vorstellung von Muslimen, aber mit einer enzyklopädischen Kenntnis der Einwanderungsgesetze und -praktiken –, herrschte allgemein der Glaube, "erst kommen die dran, dann wir."

Man hat uns den letzten Nerv geraubt mit den heimlichen Verhaftungen; mit Ashcrofts Erklärungen, daß jede Kritik an der Regierung ein verräterischer Akt sei; damit, daß Namenslisten von Universitätsprofessoren, welche die Regierung kritisiert haben, ins Internet gestellt wurden; mit dem Vorschlag des Präsidenten, eine Armee von Millionen von Regierungsinformanten zu schaffen, die aus Briefträgern, Zählerablesern, Pizzalieferanten und allen anderen, die an Türen klingeln, bestehen sollte; und mit den Warnungen dieses Sensenmannes Verteidigungsminister Donald Rumsfeld (den ausgerechnet Henry Kissinger einmal "den unheimlichsten Menschen, der mir je begegnet ist" genannt hat) vor Verrätern unter uns, die Geheiminformationen durchsickern lassen – Warnungen, die Ängste vor Repressalien bei all jenen schüren sollten, die Meinungen äußern, sei es öffentlich oder privat.

Schließlich ist doch theoretisch das Fundament der amerikanischen Demokratie die Freiheit der Rede. Praktisch bedeutete das bisher, daß jeder alles sagen konnte, weil niemand zuhörte. Aber plötzlich bestand die Möglichkeit, daß Leute wie Ashcroft zuhörten und man aus Kritikern Dissidenten machen konnte, die spürbaren Auswirkungen für ihre vagen Ideen ausgesetzt werden konnten.

Man hat uns den letzten Nerv geraubt mit den Kriegen, tatsächlichen und angedrohten. Es ist vergessen worden, daß Bush am 10.September ein äußerst unpopulärer Präsident war. Der Wirtschaftsboom der Clinton- Jahre war am Zusammenbrechen, und Bush galt allgemein als ein Dummkopf, der die Zielscheibe nächtlicher Witze von Fernsehkomikern abgab, als ein Roboter, der von seinem Dr.Mabuse/Dr.No/Dr.Evil-Vizepräsidenten Dick Cheney kontrolliert wurde, ein Präsident, der nicht einmal gewählt worden war, sondern das Amt in einer Art gerichtlichem Staatsstreich an sich gerissen hatte.

Die einzige Hoffnung für Bush war ein Krieg, um die Nation hinter sich zu bringen, so wie es auch sein Vater in dessen Wirtschaftskrise getan hatte, und es liegt auf der Hand, daß, hätte es den 11.September nicht gegeben, die USA später im Jahr in den Irak einmarschiert wären. Das Team hatte schon am ersten Tag der Bush-Präsidentschaft davon zu reden begonnen, aber sie mußten erst noch die Verwaltung auf Vordermann bringen und auf kühleres Wetter in der Wüste warten.

Der 11.September schenkte ihnen eine alternative Möglichkeit. Statt den Angriff – wie es in Europa geschah – als monströses Verbrechen anzusehen, dessen Täter tot waren, deren Komplizen aber noch gefaßt werden mußten, wurde er auf der Stelle als ein kriegerischer Akt gewertet, ein neues Pearl Harbor, was er zweifellos nicht war. (Krieg, so wurde oft gesagt, ist Politik oder Geschäft mit anderen Mitteln: der Versuch, der anderen Seite die eigene Politik, Produktion oder Souveränität aufzunötigen. Al-Qaida ist wie alle revolutionären Jugendbewegungen mehr an Denken und Empfindungen interessiert als an politischen Realitäten, und der Angriff auf das World Trade Center war eine Art grotesker Eigenreklame.)

Ohne einen greifbaren Feind, gegen den man Krieg führen konnte, vermischte das Team im öffentlichen Bewußtsein schnell al-Qaida und die Taliban, startete den sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus" – so als wollte man Sizilien bombardieren, um den Heroinhandel der Mafia auszumerzen –, verkündete jeden Tag neue, sensationelle Siege und schlachtete viel mehr Unschuldige ab, als am 11.September gestorben waren. Was Osama bin Laden oder jedes andere wichtige Mitglied von al-Qaida betrifft, so gelang es dem Krieg gegen den Terrorismus nie, "to smoke ëem out and hunt ëem down", nach Bushs berühmtem John-Wayne- Zitat.

(...)

Medien und Macht

Ist es möglich, die Vereinigten Staaten zu verstehen? Europäer halten sie gern lediglich für eine reichere, vulgärere Version von Europa. Aber die beiden verbindet wenig mehr, als daß in ihnen sehr viele Weiße wohnen. Die Vereinigten Staaten sind eine Bananenrepublik mit viel Geld. Sie sind vielleicht die perfekteste Form einer Bananenrepublik. Ihre Generäle müssen nicht nach der Macht greifen oder sich auch nur um diese langweiligen, inländischen, nichtmilitärischen Dinge kümmern, denn ganz gleich, wer der angebliche Chef der Regierung ist, die Generäle bekommen immer, was sie wollen: viele, viele Spielsachen zum Spielen. (Oft schenkt ihnen der Kongreß sogar Spielsachen, die sie gar nicht haben wollen.)

Darüber hinaus haben sie – seit dem Vietnamkrieg – wie die Generäle einer Bananenrepublik kein großes Verlangen, Menschen mit diesen Spielsachen umzubringen, weil das bedeuten könnte, daß einige ihrer eigenen Jungs getötet werden. Sie sind Kriegsgerätfetischisten, und sie wünschen sich nichts weiter als die neuesten Waffen und umständliche Manöver, in denen sie sie ausprobieren können. Ihre Art Krieg ist Grenada – der einzige Krieg, den sie in den letzten 50 Jahren gewonnen haben –, und ihre Abneigung, in den Krieg zu ziehen, stellt auch weiterhin die stärkste Friedensmacht der Nation dar.

Wenn man die sogenannte intelligence, den Geheimdienst, mit zur Verteidigung rechnet, gehen ungefähr zwei Drittel der amerikanischen Steuerdollars an die Generäle. Dadurch bleibt natürlich sehr wenig für andere Dinge übrig, und deshalb sind die USA, was Infrastruktur und Allgemeinwohl betrifft, die Bananenrepublik der industrialisierten Nationen mit 25 Prozent in Armut lebender Kinder, mit dem schlechtesten Bildungssystem, dem schlechtesten Nahverkehrssystem, ohne staatliches Gesundheitswesen, mit der höchsten Rate an Analphabetentum, Kindersterblichkeit und Teenagerschwangerschaften, mit Millionen Obdachlosen und Kleinstädten, die aussehen, als hätte in ihnen gerade die Pest gewütet.

Wie die Regierung jeder Bananenrepublik wird die der USA weitgehend von den Reichen kontrolliert. Das hat sich weiter verschärft, seit die Dominanz des Fernsehens in der amerikanischen Politik noch stärker geworden ist. Man benötigt riesige Summen für Fernsehwerbung, um gewählt zu werden – eine untergeordnete Position in der Kommunalverwaltung kostet eine Million Dollar, der letzte Präsidentschaftswahlkampf hat eine Milliarde gekostet –, und diejenigen, die es schaffen, gewählt zu werden, müssen dann den Großteil ihrer Zeit darauf verwenden, Geld für ihre Wiederwahl aufzutreiben. Dieses Geld kommt selbstverständlich von den Leuten oder Firmen, die es haben, und diese Leute oder Firmen erwarten selbstverständlich wiederum etwas dafür. (Die amerikanische Politik würde sich über Nacht total verändern, wenn Fernsehwahlkampf, wie fast überall auf der Welt, verboten würde, aber das hätte zur Folge, daß das System sich freiwillig zur Selbstzerstörung entschließen würde.)

Trotzdem herrschte vor dem Bush-Zeitalter die Annahme, daß zum Wohl der Leute, die tatsächlich ihre Stimme abgeben, ein paar Dinge getan werden müssen. Das geschah dann auch, zum Teil deswegen, weil man diese Stimmen erneut brauchte, und zum Teil deshalb, weil die nicht gewählten Regierungsbeamten oft Angehörige des öffentlichen Dienstes waren, die sich letztlich entschieden hatten, ihr Leben dem Dienst am Bürger zu widmen. Aber Bananenrepubliken sind manchmal reif und manchmal verfault, und dieses Team des Weißen Hauses ist etwas vollkommen Neues. Fast alle von ihnen haben, nachdem sie für Bush senior gearbeitet hatten, die Clinton-Jahre in den oberen Etagen von Erdöl-, Energie- und Pharmakonzernen verbracht.

Der Stabschef des Weißen Hauses war in Washington der wichtigste Lobbyist der Autoindustrie gegen Umweltschutzmaßnahmen, und nach Condoleezza Rice – der Kriegerprinzessin Xena im Team – ist sogar ein Öltanker benannt. Allein im Jahr 2000, dem Jahr, bevor sie in Juniors Leitungsteam eintraten, verdiente beinahe jeder von ihnen – Colin Powell eingeschlossen – zwischen 20 und 40 Millionen Dollar. Die meisten von ihnen haben ein Vermögen von mindestens 100 Millionen Dollar, und viele besitzen noch viel mehr. Wenn man bedenkt, daß Bush nicht einmal gewählt wurde, stellt sein Team eine kollektive feindliche Übernahme der amerikanischen Regierung dar.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.