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Cover Lettre International, Jakob Roepke
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LI 107, Winter 2014

Dylan Thomas

Stellungnahmen auf dem Weg zum Grab – Aus einem Dichterleben

(…)

Nach Swansea gelangte ich hauptsächlich zu Fuß und per Autostop und durch den Hinweis eines älteren Landstreichers in der Stadtmitte fand ich zu einer Krypta unter der St Paul’s Church in der St Helen’s Road in Swansea, wo, wie es dieser durch die Vorsehung bestimmte Wegelagerer angegeben hatte, „Ehrwürden Leon Atkin dich sofort empfangen wird“.

Es zeigte sich, daß die Krypta ein Sortiment von Flüchtlingen enthielt: Da war zum Beispiel ein Mann, der eine Menge Teleskope in einem Zelt an der Mumbles Bay gehortet hatte, sie aber unerklärlicherweise „hier den Winter über unterbringen“ wollte. Seine riesigen Messingrohre wurden angemessen in Lederbehältnissen unter einer Tischplatte in der Kirche gestapelt, auf der Leon Atkin täglich einen großen Festschmaus für die wechselnden Bewohner der Krypta ausbreitete.

Über diesen vagabundierenden Astronomen hinaus gab es ein Kleinverbrecherpärchen, das von der Polizei wegen irgendwelcher ruchlosen Geschäfte „im Nebel“, d. h. oben in London, gesucht wurde. Des weiteren ein reizbarer Boxer mit bloßen Fingerknöcheln, dem man sorgsam aus dem Weg gehen mußte, vor allem wenn er gebechert hatte. Andere wurden hineingespült und wieder hinaus. Es gab arbeitslose Gelegenheitsarbeiter und Leute, die einfach nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen – Leute, von den Franzosen
les marginales genannt.

Soweit ich es beurteilen konnte, war es, dank des gütigen, anarchischen, von Leon begründeten Gemeinschaftssinns, möglich, nach Belieben zu kommen und zu gehen. Wenn diese weißmähnige und kräftige Gestalt in dem kombinierten Schlafsaal und Wohnzimmer der Krypta erschien, wie er es täglich tat, begrüßte er jeden herzlich und versicherte, daß sie genügend zu essen hätten und mit genügend Schlafstellen aus der Sakristei versehen seien, wo es etwa vierzig Feldbetten gebe. Jeden Morgen packte sich Leon einen fabrikmäßig großen Kohleneimer und füllte ihn aus dem Bunker draußen, dann sorgte er dafür, daß der Ofen großzügig aufgefüllt war und die Heizkörper in der Krypta gut in Schuß waren, und wenn sie es waren, gab er ihnen einen anerkennenden Klaps.

Alle waren in zwangloser Weise eingeladen, Leons Kirche oben, im Hauptschiff des Gebäudes, zu besuchen, doch von niemandem wurde dies erwartet. Kost und Logis waren frei, ohne irgendwelche Bedingungen. Das kam vorbehaltloser Liebe so nahe, wie ich es noch nie erlebt hatte, und niemals wurde das an die große Glocke gehängt. Leon strahlte etwas Ruhiges, Selbstloses aus. Da war nichts Unterschwelliges, einfach nur ein Gefühl gütiger Transzendenz; Gnade sogar.

Als ich ihn kennenlernte und ihm erzählte, daß ich vor ein paar Jahren die Lesung von Dylan Thomas miterlebt habe und in der Hoffnung nach Swansea gekommen sei, Leute zu treffen, die ihn kannten, wurde Leons Lächeln breiter, und er erzählte mir, daß er Dylan „schon als jungen Kerl“ gut gekannt habe und er ihn schmerzlich vermisse, obwohl „ich Dylan nur ein einziges Mal in der Kirche gesehen habe, als er nämlich im Sarg zum Trauer-gottesdienst hereingetragen wurde“.

„Möchtest du eine Geschichte über ihn hören?“, fragte Leon. Ich nickte begeistert. „Hast du jemals von den Schwarzhemden gehört?“ Ich bejahte. „Nun, sie versuchten hier im Plaza Kino 1934 eine Kundgebung abzuhalten. Dylan und ich gingen dorthin, zusammen mit seinem kommunistischen Freund Bert Trick, und haben wir es ihnen nicht ordentlich gegeben? Das haben wir, das haben wir!“  Er zwinkerte im Vorgriff auf die wieder erlebte Geschichte.

„‘The British Union of Fascists’ nannten sie sich selbst, und der Anführer dieser Schwarzhemden war ein Engländer namens Sir Oswald Mosley. Dieser Mosley – Sir Mosley meinetwegen – attackierte die Juden in grimmiger Manier, und ganz Swansea wußte schon vorher über ihn Bescheid, über seine abscheuliche Unflätigkeit, nicht wahr?“ Ich nickte.

„Nun“ – Leon beugte sich verschwörerisch vor – „sie gingen so vor, daß sie um Fragen aus dem Publikum baten, die aufgeschrieben und dieser Mosley-Kreatur übergeben wurden, damit er sie beantwortete.

Ich schrieb hin: ‘Ich arbeite für einen Juden. Meinen Sie, ich sollte meinen Arbeitgeber wechseln?’

Nun, auf diese Frage verzog Mosley seine dünne Lippe und drückte seinen Abscheu darüber aus, daß jemand für einen Juden arbeiten sollte, und dann sagte er, daß ‘der Fragesteller doch sicherlich unter den Nichtjuden in Swansea jemand Zuverlässigeres finden würde, für den er arbeiten könnte?’ Und dann schaute sich dieser Mosley um und sagte zum Publikum: ‘Nun, wer hat denn diese Frage gestellt? Ich rate Ihnen, einen neuen Arbeitgeber zu finden.’

Immer fragten sie das, nicht wahr? ‘Wer hat diese Frage gestellt?’ Und wenn es eine Frage war, die sie nicht mochten, dann würden ihre Schlägertypen und Rabauken den Fragesteller nach draußen eskortieren und ihn höchstwahrscheinlich vermöbeln, aber diesmal war es natürlich ihr Pech, weil ich aufstand und ich, natürlich, beim Aufstehen meinen Priesterkragen präsentierte“ – dabei kicherte Leon – „und dadurch kundtat, wer es war, für den ich arbeitete. Der Groschen fiel. Ziemlich laut. Die Zuschauer kapierten es. ‘Das ist Ehrwürden Leon!’ riefen sie. Dann war die Hölle los. Das Plaza faßte dreitausend Leute. Dreitausend empörte Leute!

Nun, man mußte Mosley durch den Hinterausgang hinauslotsen, nicht wahr? Er schimpfte und kreischte: ‘Gotteslästerung! Gotteslästerung!’ Und dann mischten die Zuschauer mit. Sie griffen die Schwarzhemden an. Dylan und Bert und ich, wir konnten unsere Fäuste gut gebrauchen.“ Leon schaute zu mir auf und fügte dann ein wenig entschuldigend hinzu: „Um Gutes zu tun, weißt du, muß man manchmal seine Fäuste einsetzen. Etwas schockierend, aber so weit sind wir gekommen. ‘Welche Waffe hat der Löwe, außer sich selbst?’ Kennst du diese Zeile? Sie stammt von John Keats.

Oh ja, Dylan hatte bei den Schwarzhemden ins Schwarze getroffen. Er hatte von ihrem ‘erstarrten Patriotismus’ gesprochen – so drückte er sich aus –, und dann hatte er diesen dürren alten Demagogen Mosley als jemanden geschildert, der ‘an einer Elefantiasis der Seele’ leidet. Das ist vielleicht eine Zusammenstellung, he?“ Und Leon lachte schallend, während er sich erinnerte.

(…)
 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.