Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 91, Sam Szafran
Preis: 11,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 91, Winter 2010

Mexikanischer Bolero

Musik als Aphrodisiakum, ein süßer Taumel in verruchten Tanzsalons

(Auszug/LI 91)

 

Der mexikanische Bolero – die „schönste und zugleich abgründigste Liebesmusik des letzten Jahrhunderts …“ Ein „Dartpfeil, der ins Herz geht …“ Ein „unschlagbares Instrument, mit dem Männer um Frauen gefreit haben …“ Ein „Ritus, in dem sich die Menschen in einer Zeit der Triebunterdrückung ihre geheimsten Wünsche mitteilen konnten …“ Eine „Methode, um die lateinamerikanischen Männer zu Machos zu erziehen …“ Eine „Quelle weiblichen Unglücks, deren verlogener Rhetorik mit feministischen Diskursattacken begegnet werden muß …“ So unterschiedlich (und bisweilen verrückt) heutige Schriftsteller und Schriftstellerinnen über den Bolero urteilen – eines war er in seinen goldenen Jahren ganz sicher: die erfolgreichste Musik Lateinamerikas – und das musikalische Genre, zu dem die meisten Kinder gezeugt, der meiste Alkohol vertilgt und die meisten Tränen vergossen wurden.

 

Mit dem gleichnamigen Kastagnettentanz aus Andalusien und dem maurentümelnden Orchesterstück eines Maurice Ravel hat der mexikanische Bolero nichts zu tun – über verschlungene, ungeklärte Wege hat er sich nur dessen Modenamen entliehen. Die ersten als „Boleros“ bezeichneten Liebeslieder tauchen um 1870 auf Kuba auf, werden dort aber schnell vom son überflügelt. Erst mit einer Verzögerung von Jahrzehnten gelingt dem Bolero in einem zweiten Anlauf der Siegeszug – freilich auf mexikanischem Boden. Ein denkwürdiges Datum ist der 19. August 1927, an dem zwei junge Komponisten in Mexiko-Stadt die Musikgeschichte revolutionierten.

 

An diesem Tag fiebern die Gäste im piekfeinen Teatro Lírico in der Altstadt dem Liedwettbewerb La Feria de la Canción entgegen. In der Jury sitzen alte Hasen der Tonkunst und Anhänger einer Ästhetik, die sich seit dem vergangenen Jahrhundert kaum weiterentwickelt hat: Man liebt pastoralen Schwulst, kitschige Kunstlieder, Arien, Fandangos oder nationalistisches Trara.

 

Vor dem Teatro Lírico stehen zwei junge Komponisten, die die letzten Nächte gemeinsam durchzecht haben: Guty Cárdenas, ein Beau aus dem feudalen Yucatán, und Agustín Lara, Bordellpianist, klapperdürrer Frauenheld und schwarzes Schaf einer wohlhabenden Familie. Guty Cárdenas hat sich mit schwülstigen Kunstliedern einen Namen gemacht, wo „im süßen Dörfchen“ „das Liebchen“ „am Fensterchen“ steht und „dem Kuhhüterchen“ seine Liebe gesteht. Agustín Lara klimpert seit Jahren Tangos, Walzer und Foxtrotts in den Puffs von Mexiko-Stadt – daher die riesige Wangennarbe, die ihm eine Prostituierte mit einer zerschlagenen Bierflasche zugefügt hat.

 

Beide Komponisten haben von dem Kitsch, der beim Wettbewerb zur Aufführung kommen soll, genug und etwas Neues komponiert: einen Bolero. Guty Cárdenas ein Stück namens Nunca („Niemals“), Lara ein anderes namens Imposible („Unmöglich“). Lara hat zuviel Angst, sein Lied vorzutragen. Cárdenas aber singt im Teatro Lírico vor einem völlig verdutzten Publikum Nunca, das von einem düsteren Trübsinn ist, den man in Mexiko bis dahin nicht kannte:

 

„Ich weiß, daß ich niemals deinen Mund küssen werde. / Deinen brennenden, purpurnen Mund … / Ich weiß, daß ich dich völlig nutzlos anbete. / Aber trotzdem liebe ich dich. / Ich weiß, daß ich dich völlig nutzlos verehre, / daß mein Herz dich völlig nutzlos beschwört, denn niemals, niemals werde ich deinen Mund küssen …“

 

Nunca schlägt ein wie eine Bombe. Cárdenas wird von der Jury und dem Publikum bis zum Morgen gefeiert. Am folgenden Tag bereits schicken mehrere Plattenfirmen ihre Stars ins Studio, um Nunca einzuspielen, doch Cárdenas bleibt nicht viel Zeit, seinen Ruhm auszukosten. Nach seinem Durchbruch als Komponist betritt er an einem Apriltag die cantina Salón Bach in der Innenstadt von Mexiko-Stadt, wo er seinen Stammtisch hat. Dort gerät er mit zwei Gästen in Streit, dem spanischen Brüderpaar Ángel und José Peláez. Cárdenas, der als rauflustig bekannt ist und ebenso wie die Spanier einen Revolver trägt, läßt sich nicht einschüchtern. Es kommt zu Handgreiflichkeiten; der eine Bruder schlägt Guty eine Flasche über den Kopf, der andere schießt ihm dreimal in den Bauch. Guty Cárdenas stirbt noch in der cantina – mit nur 26 Jahren.

 

Guty Cárdenas hatte mit Nunca den ersten großen Bolerohit gelandet, doch Agustín Lara erhob den Bolero zur Perfektion. Nach seinem mißglückten Versuch beim Wettbewerb schreibt er einen Bolero nach dem anderen – jeder ein funkelnder Diamant. Lara erschafft einen lateinamerikanischen Minnesang, dessen deliziöse Raffinesse seinesgleichen sucht. In Laras Boleros gibt es nur ein Thema: die Frau. Immer ist sie Femme fatale, kaschierte Hure, herzlose Bestie und grausame Herrin, die sich lachend über den Mann erhebt. Pervertierte, Rumtreiberin, Straßenflittchen, Verlorene oder Kurtisane hatte Lara seine ersten Boleros betitelt, spätere Komponisten legten nach mit Heuchlerin, Verräterin, Gefängniswärterin, Diktatorin oder Müll. In Boleros gilt das Gesetz: Die Frau ist immer schuld, der Mann stets Opfer. Anbetung oder Haß, sklavische Vergötterung oder schroffe Abkehr sind die Pole, zwischen denen sich die Texte bewegen. Besungen wird die Gegenspielerin Frau mit fast pathologischer Kraft – wie sie sich bereits in Laras erstem Bolero Imposible äußert:

 

„Ich weiß, es ist unmöglich, daß du mich liebst. / Denn du tauschst deine Küsse gegen Geld und vergiftest so mein Herz … / Aber glaub nicht, daß deine infamen Lügen mich dich vergessen lassen. / Im Gegenteil, sie stacheln mich an, dich noch stärker zu lieben, / Denn deine Bestrafung überlasse ich Gott.“

 

Jeder von Laras schwülen Frustrationsgesängen wurde über Nacht ein Erfolg, eine neue Hymne im Nachtleben von Mexiko-Stadt. Das lag auch daran, daß der hagere Dandy, der schon mit zwölf Jahren als Bordellpianist gearbeitet hatte und mit 16 zum ersten Mal verheiratet war, seine neuen Kompositionen nach wie vor dort aufführte, wo es die Zuhörerschaft nach einem solchen Soundtrack dürstete: in Bordellen und Animiersalons: „An viele Bordelle kann ich mich noch sehr gut erinnern: Da gab es das Casa de Francis, absolut luxuriös im Stil von Ludwig XV. gehalten … Das Marina, bekannt für seine schönen Mädchen und seine beiden Salons – einen gleich hinter der Tür und einen im Hinterzimmer, den man hochtrabend den ‘Pullman-Salon’ nannte und der nur für Gutsituierte zugänglich war … Und dann gab es noch eine ganze Reihe Puffs minderer Qualität, die sehr reichen Transvestiten gehörten: ‘Manuel dem Fahrrad’, der später ermordet wurde, oder ‘Pepe dem Zamoranermädchen’, der ebenfalls auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Generell war das Leben auch für uns Bordellmusiker sehr gefährlich. Mal wurden wir bejubelt wegen unserer Lieder, dann wieder wollten uns Gäste abknallen, weil sie vermuteten, daß wir etwas mit ihren Lieblingsmädchen hatten. Die Stimmung konnte jedesmal sehr schnell umschlagen.“

 

Bei dieser Offenherzigkeit, die Agustín Lara auszeichnete, war es kein Wunder, daß er ins Kreuzfeuer der konservativen Kritik geriet: In einer Zeit, in der katholische Fundamentalisten in Nordmexiko einen Bürgerkrieg mit 70 000 Toten vom Zaun brachen, zeigten sich klerikale Journalisten wenig begeistert von der unmoralischen Ausrichtung der Boleros. Ein Kritiker, der der neugegründeten Liga der Sittsamkeit angehörte, schrieb: „Lara hat nicht ein einziges wirklich mexikanisches Lied geschrieben. Rumtreiberin, Verlorene oder Kurtisane sind seine Lieblingstitel. Bald wird er uns wohl mit Stücken wie Horizontallage oder Nutte beglücken.“

 

„Kranke Melodien“ und einen „degenerierten Geschmack“ konstatierten andere Intellektuelle, und der Schriftsteller José Luis Velasco tobte: „Laras Musik ist Zeichen der sozialen Verwesung – genau wie gewisse schändliche Krankheiten, die an bestimmten Stellen Pusteln wachsen lassen. Während andere Komponisten Lieder schreiben, die wie Rosensträuße duften, sind Laras Produkte giftiges Unkraut, das einen toxischen Gestank absondert, an dem sich Dienstmädchen, Proleten und Hinterhofflittchen berauschen.“

 

(...)

Preis: 11,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.