LI 89, Sommer 2010
Dribbeln am Meeressaum
Schwarze Haut und weißer Ball - Brasiliens legendäre FußballzeitenElementardaten
Genre: Autobiographie, Erzählung
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Reinhard Kißler
Textauszug
Ich bin in der Bucht von Santos geboren, an der Küste des Bundesstaates São Paulo, in São Vicente, einer Stadt, die sich die Insel gleichen Namens mit ihrer Nachbarin, der alten Hafenstadt Santos, teilt, welche so an ihr klebt, als ob es eine Stadt mit zwei Hälften wäre. Dort habe ich die Zeit bis zu meinem 18. Lebensjahr verbracht, von 1948 bis 1966. Es war eine Welt, wo Stadt, Strand und Mangrovenwälder ineinander verschmolzen und der Fußball allgegenwärtig war. Auf unbebauten Flächen, nichtgepflasterten Straßen und morastigem Gelände voll dunklen Schlamms konnten wir Kinder es kaum erwarten, bis wir das Mittagessen verdaut hatten, um ein Spiel zu beginnen, das erst mit Einbruch der Dunkelheit zu Ende ging. Dies zog sich über die langen Monate der Sommerferien hin. Oft kam ich, immer barfuß und ohne Hemd, von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt nach Hause, wie ein Trikot 10. Später spielte sich der Sportunterricht unseres Gymnasiums regelmäßig am Strand ab, was pausenloses Fußballspielen bedeutete, von sieben Uhr bis gegen Ende des Vormittags, mit dem stillschweigenden Einverständnis eines Lehrers, der sich mehr für andere Dinge interessierte und uns bis zum Schlußpfiff der Verantwortung eines Rettungsschwimmers überließ.
Vielleicht war es vor allem der Fußball, der São Vicente und Santos als zwei verschiedene Städte auswies, denn städtebaulich waren sie derart miteinander verzahnt, daß einem Besucher auf den ersten Blick keine Trennlinie auffiel. Der vicentinische Fußball war im wesentlichen lokal begrenzt und von nachbarschaftlicher Bescheidenheit, während der von Santos bundesstaatliche Bedeutung und drei Mannschaften in der Oberliga hatte: Portuguesa Santista, Jabaquara mit ihren unvergeßlichen rotgelben Trikots und dem unverbesserlichen Zustand eines Clubs ohne Stadion sowie den Santos Futebol Clube. Was aber, das muß einmal klar gesagt werden, nicht im geringsten die Begeisterung der heiteren Nachmittage oder der dramatischen Tage von mit Pfützen übersätem oder verschlammtem Rasen minderte, an denen die Hin- und Rückrunden der Meisterschaft von São Vicente stattfanden. Auf diese Weise kamen die entferntesten und unterschiedlichsten Viertel der Stadt zusammen, ließen kleine Einblicke zu und benutzten die gleichen Plätze. An solchen Wochenenden verwandelte sich von Catiapoã bis Vila Voturuá und vom Strand bis zum Parque Bitaru der graue Alltag in ein buntes Fest und die Bevölkerung von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Gelegenheitsarbeitern in Fabelwesen. Die aber höchst irdisch waren, wenn ihre Körper auf das Leder prallten, was sich in der sonoren Gewalt eines Schusses entlud, inmitten des schwarzen Schlamms mit seinem penetranten Geruch und dem Geruch des Rasens – all das so unmittelbar nah beieinander, daß einem der Atem stockte. Der Torhüter Alicate, der Halblinke Barbosa und der klein ge-wachsene vortreffliche Mittelstürmer von Vidrobrás, dessen Namen mir unverzeihlicherweise entglitten ist (Nílson, Nélio, Neizinho?), spielen in meiner Erinnerung mit jedem Mal besser (in den Worten Chico Buarques über die Stars der Vergangenheit). Alles gab dem Spruch von Nelson Rodrigues recht: „Selbst das schäbigste Gebolze besitzt shakespearesche Komplexität.“
All dies stand natürlich im Einklang mit dem, was wir um uns herum in der Welt der Erwachsenen sahen. Wie so viele andere, wenn nicht sämtliche Städte Brasiliens hatte São Vicente endlos viele Fußballplätze, die offen neben Straßen, Plätzen oder Flußauen lagen und von einfachen, niedrigen Holzzäunen umgeben waren und wo jeden Sonntag die Meisterschaftsspiele der „Oberliga“ und der „Ersten Liga“ ausgetragen wurden. Der Rasenplatz von Itararé (wo so viele Schlachten stattfanden) war eine fast nahtlose Fortsetzung des Sandstrands, und der von Beira-Mar, der sich kurioserweise auf der dem Meer gegenüberliegenden Seite befand, war ein unregelmäßiger Platz, auf dem man abgesehen von den kaum sichtbaren Linien des Strafraums und des Mittelkreises auch die Pfade der täglichen Passanten wahrnahm, deren Weg quer über das Fußballfeld führte, und wo unter der Woche an Stellen, wo das Gras etwas dichter wuchs, in aller Ruhe ein Pferd graste, umgeben von Wäschestücken, die dort zum Bleichen ausgebreitet waren. Der Club Beija-Flor da Vila Margarida hatte seinen makellosen Rasen dem ihn umgebenden Mangrovenwald abgerungen, inmitten eines Armenviertels, und sich, ausgehend von den bescheidenen Anfängen einer Zuschauertribüne, in das riskante Abenteuer des Baus einer Art Flutlichtanlage gestürzt. Dahingegen hatte der São Vicente Atlético Clube schon so etwas wie ein echtes Stadion mit kurzgemähtem, festem Rasen, das von hohen Mauern und Maschendrahtzäunen umgeben war, wozu außerdem eine Reihe simpler, aus grobem, dunklem Holz gezimmerter Zuschauerränge kam, aus denen noch die Nägelköpfe herausragten, die abenteuerlich abgedeckt waren. Dann waren da noch der Club von Vidobrás (der Werksmannschaft, in deren Fabrik mein Vater als Hochofenchef arbeitete) sowie der Club Corinthians da Vila Cascatinha und schließlich Continental da Vila Melo. (All dies wird vom Halblinken Pepe, der die kleine Welt von Vicente vor mir erlebte und von da zum Santos Futebol Clube wechselte, in seinem Buch Bombas de Alegria mit einer Liebe und einem Humor beschrieben, die an Amarcord erinnern.) Neben dem kleinen Bahnhof an der Bahnstrecke Santos–Juquiá erinnert das Stückchen Ödland des Fußballclubs Rubro-Negro SPR, das von der städtischen Bebauung mittlerweile fast erdrückt wird, den fast schon in Vergessenheit geratenen historischen Ursprung der ganzen Bewegung: die englische Eisenbahngesellschaft, in deren Schatten auf einem Gelände, das auch Clubs, Fabriken und Felder umfaßte, der brasilianische Fußball entstand.
All diese Betriebsamkeit von Clubs, Ligen und Meisterschaften zerfloß am Strand zu Dimensionen vollständiger Zeitlosigkeit und Utopie. Die Strände von Santos und São Vicente ebenso wie die, die sich von Praia Grande bis Itanhaém und Peruíbe erstrecken, sind planeben und von hartem Sand, im Gegensatz zu den weichen und unbeständigen Sandstränden Rio de Janeiros. In der Dämmerung und dem ständigen Hin und Her des unsteten Meeressaums bieten sie sich bei Ebbe wie brillante feinkörnige und silbrig schimmernde Billardtische der Sonne dar. Dort spielten wir an endlos langen Nachmittagen Fußball ohne fest markierte Felder, wo sich die beiden Städte endgültig nicht mehr unterschieden. Mit zwei „Torkästen“ von etwa einem Meter Höhe, die durch Holzklötze oder Schlappen markiert wurden, und immer zahlreicher werdenden Mitspielern, die sich zufällig eingefunden hatten, zog sich das Spiel in endlose Längen, wobei kaum noch jemand an den Spielstand dachte, der weniger wichtig war als die Ballführung oder der Kampf um den Ball – ein tolles Festival von Dribblings und dem Aufspüren außerordentlicher Pässe, wobei die Brise und das Meerwasser sich auf die Zweikämpfe entlang des Meeressaumes schlugen. Die Organisationsform dieser Art von Spielkultur war simpel: Wer zum Strand kam und sich einer der Gruppen näherte, die schon um einen Ball herum versammelt und gerade dabeiwaren, zwei Mannschaften zu bilden, wurde dem Spiel durch ein Auswahlverfahren von Gerade und Ungerade zugeordnet, das die Anwesenden durch zwei dazu bestimmte Vertreter in die beiden Mannschaften aufteilte. Wer zu einem Spiel kam, das schon im Gange war, am besten zu zweit, wurde nach dem Grundsatz „Einer auf jede Seite“ im allgemeinen zugelassen, bis zu einer Grenze, die zahlenmäßig eben noch akzeptabel erschien. Dieses Verfahren spontaner Aufnahme schien mir gerade so natürlich wie die Natur, das Meer und die Berge. Wann immer ich im Laufe der Jahre nach São Vicente zurückkehrte, führte mich mein erster Weg zu jenem Imperium der Strandnachmittage, um mich einem dieser Spiele anzuschließen, in denen sich sämtliche Bevölkerungsschichten und Altersgruppen in bunter Weise mischten, was ich als eines der wertvollen Dinge begriff, die man auf dieser Welt so informell wie kosten- und problemlos miteinander teilen kann. Wenn ich mich nicht täusche, war in den neunziger Jahren eine Änderung zu spüren, derer ich mir aber erst allmählich richtig bewußt wurde: Es wurde schwieriger, sich einem Spiel anzuschließen. Sie fanden auch seltener statt. Die Gruppen rückten mit einfachen Trikots an, die vorher ausgeteilt worden waren – Latten und Netze waren schon installiert –, und grenzten die Spielzone mit dickem Isolierband ab. Ab und zu schlenderte ich in der wohltuenden Wärme eines Spätnachmittags längs des himmelblauen und sanftgoldenen Sandstrands von einem Spiel zum anderen. (Allmählich konnte man hier und da auch Frauenfußball sehen, der von den Mädchen ärmerer Schichten mit unglaublichem Engagement betrieben wurde, was die damaligen Spiele auf Flußauen am Strand wiederzubeleben schien.)
(...)