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Inhaltsverzeichnis

LI 128, Frühjahr 2020

Die Wut wird stärker

Warum China eine größere Umwälzung bevorstehen könnte

Der Rechtswissenschaftler Xu Zhangrun (geb. 1962), Professor an der Pekinger Universität Tsinghua, veröffentlichte 2018 eine schonungslose Kritik am politischen System, die in intellektuellen Kreisen breiten Anklang fand. Daraufhin wurde er mit Berufsverbot belegt und beständig überwacht. Den vorliegenden Aufsatz verfaßte er im Februar 2020. Kurz darauf wurde er unter Arrest gestellt, seither fehlt jede Nachricht von ihm. Die Schrift ist im Stil der Intellektuellen aus der Zeit der Bewegung des 4. Mai von 1919 verfaßt und erinnert an die offen ausgetragenen Reformideen während der Umbruchzeit vom letzten Kaiserreich zur Republik.
Daß diese rückhaltlosen Äußerungen auch für Professor Xu persönlich fatale Folgen haben könnten, ist ihm bewußt: „Ich fürchte, daß auf diesen Aufsatz eine neue Abrechnung folgt – es könnte dies mein letzter Text sein.“

(…)

An der Wende vom Jahr des Schweins 2019 zum Jahr der Ratte 2020 breitet sich ein Virus aus, erst in einer Stadt, dann im ganzen Land. Auf einmal bläst China ein harscher Wind entgegen; Angst und Bange erfüllt die Herzen. Die staatlichen Autoritäten erweisen sich als hilflos, die einfachen Menschen tragen den Schaden davon, währenddessen sich die Epidemie auf der ganzen Welt ausbreitet und China zunehmend in Isolation gerät. Die in dreißigjähriger Reformpolitik mühsam errungene Öffnung ist über Nacht verschwunden und China – besonders seine Staatspolitik – mit einem Schlag in die Vormoderne hinabgesunken. Hinter verriegelten Straßen und Türen ereignen sich humanitäre Katastrophen, die an mittelalterliche Zustände erinnern.

(…)

Moralischer Zerfall der Staatsmacht
Das politische System ist korrupt, und das Regime entbehrt jeder ethischen Grundlage. Alles Trachten der Herrschaftselite fokussiert sich nur noch auf persönlichen Gewinn und Machterhalt. Die „Volksmassen“, die sie ständig im Munde führt, sind für sie lediglich eine schröpfbare Masse von Steuerzahlern, digital verwaltete Objekte der Stabilitätssicherung, ein „notwendiger Preis“, der geopfert werden muß, um die zahllosen Nutznießer zu ernähren, die das totalitäre Regime aufrechterhalten.

Die staatlichen Autoritäten haben den Ausbruch der Krankheit auf allen Ebenen verschwiegen und die Sache wiederholt verzögert, nur damit man rings um Xi Jinping, dem „Kern des Zentralkomitees“, wie er sich seit 2016 bezeichnet, ungestört prunksüchtige Neujahrsfeierlichkeiten abhalten und Lobeshymnen auf den schönen Frieden singen lassen konnte. Dies zeigt zur Genüge, daß sie weder an die traditionell maßgebende Anschauung denken, daß „die Bevölkerung schuldlos ist“ und „der Schutz ihres Lebens erste Priorität haben muß“, noch daran, daß heutzutage das ganze Weltsystem in Freud und Leid zusammengeschweißt ist.

Seit Ausbruch des Desasters stehen sie nicht nur blamiert, sondern auch in voller Gewissenlosigkeit da. Doch jene, die den Schaden davontragen, sind die einfachen Menschen in der Bevölkerung. Allein, der „Kern“ steht weiterhin fest, und mit ihm entstehen Ineffizienz und Chaos. Am schlimmsten ist die Repression durch die drastischen Zensurmaßnahmen, ausgeführt von einer Internetpolizei, die in wilder Hetzjagd, mit Schichtbetrieb und Überstunden, allein darauf aus ist, Nachrichten und Informationen zu blockieren. Diese aber verbreiten sich trotz allem, und das zeigt letztlich auch, daß diese Machtausübung durch Spitzel und Geheimagenten, mit der Nationalen Sicherheitskommission als stärkster Kraft, zwar kaum mehr zu überbieten, gleichzeitig aber völlig veraltet ist, denn am Ende bleibt die ganze Mühe ohne jegliches Resultat.

Eigentlich wußten es schon unsere Vorfahren: „Dem Volk den Mund zu verbieten ist schlimmer, als einen reißenden Strom aufzuhalten.“ Die Cyberspace-Verwaltung mag sich mühen, wie sie will – gegen 1,4 Milliarden Münder wird sie nicht ankommen. Recht haben die alten Weisen, sie täuschen uns nicht! Weil sich aber die Regierenden nur noch um ihren Machterhalt kümmern und im Glauben an ihre Allmacht der Selbsttäuschung ihres sogenannten „Führers“ verfallen, muß es letztendlich so weit kommen, daß der ganze Trug nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Angesichts der großen Epidemie ist diesem „Führer“ jegliche moralische Führungskraft abhandengekommen, die Blamage läßt sich nicht länger bemänteln. Während sich die Menschen an der Front halb totarbeiten und der Schaden auf den Millionen und Abermillionen des einfachen Volkes lastet, schwingen die Oberen weiterhin ihre sinnentleerten Parolen, um den Anschein zu erwecken, sie würden die Sache ernst nehmen. Damit aber setzen sie sich dem Spott der Bevölkerung aus und machen sich vor aller Welt lächerlich. All dies zeugt von nichts anderem als dem moralischen Zerfall der Staatsmacht.

All die Katastrophen der vergangen siebzig Jahre [seit dem Bestehen der Volksrepublik] haben uns längst bewußt gemacht, wie schlimm eine totalitäre Massenherrschaft ist. Die Epidemie führt uns dies nur um so deutlicher vor Augen. Es bleibt allein zu hoffen, daß die vielen Millionen Landsleute, Jüngere wie Ältere, ihr Gedächtnis benutzen, ihre sklavische Haltung abwerfen und in öffentlichen Angelegenheiten ihre eigene Vernunft walten lassen, statt sich blind für einen totalitären Machtapparat aufzuopfern. Ansonsten, ihr Geschröpften, warten wir vergeblich auf eine Rettung!

(…)

Totalitäres Big-Data-Kontrollsystem
Das Land und die Bevölkerung werden heute mittels eines totalitären Big-Data-Kontrollsystems und dessen an Terror grenzender Zensur der gängigen Social-Media-Plattform WeChat regiert. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die offizielle Ideologie, bei grundsätzlich gleichbleibender Regierungsform, in ständig neuer Weise artikuliert: von der nationalistisch orientierten „Wiederbelebung der großen chinesischen Nation“ ab 1997 und den vom Streben nach Wohlstand getragenen „Vier Modernisierungen“ [der Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung und Wissenschaft] ging es über zur Politik der „Dreifachen Vertretung“ [der Jiang-Zemin-Ära] ab 2002 und der „Neuen Drei Prinzipien des Volkes“ bis hin zu Xi Jinpings „Neuem Zeitalter“ ab 2017. Qualitativ erlebte China unter der Politik der „Dreifachen Vertretung“ seinen Höhepunkt; anschließend ging es schrittweise bergab, bis zum gegenwärtigen Big-Data-Totalitarismus, in dem es nur noch um Machterhalt geht.

Entsprechend hielt der scheinbare Übergang aus einem maoistisch-totalitären System zu einem autoritären Staat nach den Olympischen Spielen in Peking im Jahr 2008 zunächst inne, um sich dann abermals einem maoistisch orientierten Totalitarismus zuzukehren, und zwar im Laufe der letzten sechs Jahre mit immer schnellerer Geschwindigkeit. Weil der Einsatz technologischer Mittel aufgrund unbegrenzter Staatshaushalte sich auf nahezu unerschöpfliche Finanzquellen stützen konnte, erleben wir heute einen Big-Data-Totalitarismus im Orwellschen Stil.

In der Praxis ermöglicht dies einen regelrechten „WeChat-Terrorismus“, der sich direkt auf die gesamte Online-Bevölkerung richtet. Eine aus der Kasse der Steuerzahler finanzierte gigantische Armee von Internetpolizisten überwacht jedes Wort und jede Handlung der gesamten Bevölkerung. Es ist wie eine giftige Waffe, mit der das System unmittelbar auf seine Bürger zielt. Dadurch leben die Menschen in ständiger Angst, denn es werden nicht nur persönliche WeChat-Konten gesperrt oder geschlossen und ganze Chat-Gruppen abgeblockt, sondern die Nutzer werden auch aufgespürt und unter Einsatz der Sicherheitskräfte mit Gewalt abgeführt. Jeder einzelne gerät in Gefahr, davon betroffen zu werden, und ist gezwungen, aus Furcht vor unberechenbaren Strafmaßnahmen vorsorglich Selbstzensur zu üben. In einer solchen Atmosphäre wird jeglicher Ideenaustausch, der zu öffentlichen Diskussionen führen könnte, im Keim erstickt. Damit werden aber auch die Kommunikationskanäle, die unter normalen Umständen im Falle von Notlagen die Rolle eines sozialen Frühwarnsystems übernehmen können, außer Kraft gesetzt.

Während sich dergestalt ein Militärdespotismus auf der Basis einer faschistoiden Ideologie herausgebildet hat, sind auch der strukturerzeugte Ordnungsverlust und das systemimmanente Unvermögen immer stärker zutage getreten, in ihrer vollumfänglich unstrukturierten und destrukturierenden Eigenschaft.
Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, daß bei der gegenwärtigen Corona-Epidemie, noch während der große Herrscher sich als tapferer Kapitän darzustellen sucht, gerade in der Art und Weise der Staatsführung überall peinliche Mängel auftreten und die große Produktionsmacht plötzlich nicht einmal in der Lage ist, genügend Mundschutzmasken bereitzustellen. Nicht nur in der Stadt Wuhan, sondern auch in der umliegenden Provinz Hubei, haben zahlreiche Patienten noch immer keinen Zugang zu Behandlung und ärztlicher Betreuung und bleiben in der Not sich selbst überlassen. Noch ist unabsehbar, wie viele Menschen aufgrund dieser unhaltbaren Zustände ihr Leben verlieren. Mit erdrückender Deutlichkeit kommt hier das Versagen des vorgeblich allgewaltigen Regimes zum Vorschein. Wenn jedes inoffizielle Mitwirken aus der Bevölkerung unterbunden wird, wie es zur Zeit geschieht, und nur noch Informationen aus den Parteikanälen zugelassen sind, dann muß dieses Land für immer ein hinkender Riese bleiben, falls es überhaupt noch ein Riese sein kann.

(…)

Ein Rückblick auf die Ereignisse der Weltgeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigt, daß es zahlreichen totalitären Regierungen möglich war, einen Systemwandel zu vollziehen, wenn sie unter genügend starken Druck gerieten, und es ging auch ohne Blutvergießen. Sogar der Ostblock unter der ehemaligen Sowjetunion war in der Lage, einen friedlichen Übergang zu vollziehen. Das ist erstaunlich, aber auch tröstlich. Ob aber heute, da die Behörden in China jeden Übergang zu vorstellbaren Veränderungen blockieren, auch unser Land in der Lage sein wird, einen friedlichen Übergang zu vollziehen, ist nun fraglicher denn je. Und falls es denn gelingen sollte, wird es gewiß nicht anders, als die Dichter singen: „Gedeiht das Land, so leidet die Bevölkerung; / Versagt das Land, so leidet die Bevölkerung“. Was kann man da noch sagen! Es bleibt nur noch zu hoffen, daß alle Menschen in China, wenn diese Epidemie einmal vorüber ist, zur Besinnung kommen und das ganze Land ein neues Bewußtsein erlangt. Ob es noch möglich ist, ein viertes Mal eine Politik der Reform und Öffnung einzuleiten!?

(…)

Die Menschen haben mitangesehen, wie die Fakten über die neue Krankheit verschwiegen wurden, ohne jede Rücksicht auf die Gesundheit und Sicherheit der einfachen Bevölkerung. Sie muß den Preis dafür zahlen, daß die Herrschenden mit ihrer selbstherrlichen Schönwetterpolitik sich über das Volk hinwegsetzen, es „wie Strohhunde betrachten“. Sie müssen mitansehen, wie rund um die Uhr ungezählte Menschen ihr Leben verlieren, während gleichzeitig die Redefreiheit weiter beschnitten wird, nur damit die vereinheitlichten Nachrichtenkanäle mit ihren tränendrüsendrückenden Geschichten und ihren Lobliedern auf die totale Aufopferung des einzelnen für den Staat ihre schamlosen Lügen verbreiten können. Mit einem Wort: Ich glaube nicht daran, ich mache nicht mehr mit!

Mag es auch heißen, das menschliche Herz sei unsichtbar und unfaßbar und deshalb völlig nutzlos, wie es die Erfahrungswelt zu beweisen scheint, was schließlich auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Doch in der jetzigen Situation, wo einer allein ungestört auf dem Thron sitzen bleibt, obwohl das ganze Volk ihm den Tod wünscht, gerade so wie ehemals jener Gockel von Li Peng, den keiner ausstehen konnte [und der als Premierminister für die Niederschlagung der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz im Jahr 1989 mitverantwortlich war], muß man sich seufzend fragen, wie der Himmel ein solches Unrecht nur zulassen kann! Im Grunde aber ist der Himmel selbst in Not, er leidet mit uns. Dennoch, wenn wir davon ausgehen, daß es das Herz ist, das den Menschen wirklich menschlich und nicht bestialisch macht, dieses Herz, das angesichts der Vergänglichkeit zwischen Geburt, Krankheit, Alter und Tod melancholisch wird, das angesichts von Freud und Leid, Recht und Unrecht heiter oder zornig ist, das uns zu Tränen bewegt, wenn Blütenblätter fallen, uns traurig stimmt, wenn die Zeiten dahinfließen – dann sind wir auch in der Lage, uns kraft dieses Herzens durch Disteln und Dornen zu kämpfen, kraft des Herzens alle Hindernisse zu überwinden! Erstirbt das Herz im Menschen, so folgt der Untergang! Und was all die Hirnlosen anbelangt, die noch an die offiziellen Slogans glauben, all die Lackaffen, die uns Friede, Freude, Eierkuchen vorspielen, diesen ganzen zusammengerotteten Pöbelhaufen: Nie wurde Geschichte von solchen Leuten geschrieben, und schon gar nicht von ihnen in neue Bahnen gelenkt. Auch davon zeugt die Geschichte, und sie trügt uns nicht.

Die Zeichen des Niedergangs liegen vor, der Countdown hat begonnen.

(…)

Aufgesetzt am 4. Tag des 1. Mondmonats im Jahr Gengzi (28. Januar 2020). Beendet am 9. Tag (2. Februar), bei unerwartet heftigem Schneefall.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.