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LI 138, Herbst 2022

Kulturelle Wurzeln des Krieges

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Alte Kulturschichten

Wenn durch kulturellen Wandel provozierte Informationsprozesse in Gang gesetzt werden, rekonstruieren sie häufig die Verknüpfungen zu älteren Kulturschichten. Die rekonstruierten Referenzen leiten die Expansion zu bestimmten geographischen Punkten. Ersichtlich richtet sich die russische Ausdehnung jetzt auf solche Punkte, die mit den historischen Perioden des Russischen Kaiserreiches und sogar den älteren Zeiten des Moskauer Zarenreichs und der Kiewer Rus verbunden sind.
     Allmählich entwickelten sich die Referenzen hin von den neuesten zu den ältesten assoziativen Ebenen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion zielten die Bemühungen nicht nur darauf ab, das Territorium der Russischen Föderation vor dem Separatismus zu bewahren (Erster Tschetschenienkrieg, 1994 bis 1996). Bald traten neue Formen der wirtschaftlichen und politischen Integration in Erscheinung, vor allem die Idee der Eurasischen Union (1994). Zusätzlich entstanden nationalistische, patriotische, rechte Gruppierungen, und es zirkulierten pseudowissenschaftliche Theorien zur Wiederherstellung des Imperiums. Beginnend bei der Staatshymne wurden die Symbole der Sowjetzeit zielgerichtet in den Informationsraum eingeführt.
     Das Wiederaufleben religiöser Praktiken seit Ende der 1990er Jahre verstärkte die Verbindung der russischen Nationalkultur mit kirchenslawischen Quellen und führte zu einem wachsenden Einfluß der orthodoxen Kirche. Die Kirche ist nunmehr fest in die staatliche Politik, Bildung, Wissenschaft und Armee eingebettet. Sie propagiert Vorstellungen vom auserwählten Volk Rußlands, von seiner überlegenen Spiritualität, von idealisierten Eigenschaften, einschließlich der Retter-Rolle des russischen Kriegers.
     Die Russisch-Orthodoxe Kirche stellt die Menschenrechte und universellen Werte in Frage, insbesondere leugnet sie das Konzept des Humanismus; die Kirche unterstützt die "Militäroperation" in der Ukraine. Ein wiederbelebtes imperiales Konzept der Heiligen Rus, die Rußland, die Ukraine und Weißrußland (im weiteren Sinne auch Moldawien) umfaßt und unter keinen Umständen zerstört werden darf, rechtfertigt den Anspruch, eine gemeinsame Identität unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats zu bewahren.
     Die historischen Referenzen weisen auf Kiew als den Fokus des ursprünglichen Kulturraums hin, der seit Ende des 10. Jahrhunderts durch die Verbreitung der schriftlichen kirchenslawischen und altrussischen Sprache in Literatur und Dokumenten entstanden ist. Diese Kultur beruht auf byzantinischen Vorbildern, vermittelt durch umfangreiche Übernahmen und Anlehnungen aus dem Griechischen. Kiew als Metropole war der Kern dieses Gebiets, das sich nach Osten zum Fürstentum Wladimir-Susdal und seinem peripheren Zweig Moskau ausdehnte.
     Die heutigen Politiker Rußlands übertragen diese ursprüngliche Einheit anachronistischerweise auf die heutige Situation. Sie mißachten die Tatsache, daß die spätere Geschichte diesen ursprünglich gemeinsamen Kulturraum in getrennte Ableger aufteilte. Am wichtigsten ist, daß Zentralrußland von 1240 bis 1480 unter der Goldenen Horde existierte, während die Gebiete der zukünftigen Ukraine und Weißrußlands ab Mitte des 14. Jahrhunderts erst als Teil des Großfürstentums Litauen und dann unter der Herrschaft von Polen-Litauen unter starkem polnischem Einfluß standen.
     Diese Bedingungen führten zur Divergenz der Kultur- und Literatursprachen in Varianten, was im 16. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Die südwestlichen Gebiete entwickelten sich schneller, und ihre Erneuerungen übertrugen sich weiter gen Osten. Lateinschulen und ihre slawischen Entsprechungen breiteten sich bis nach Kiew aus; die literarische Umgangssprache (Prosta mova) ersetzte das Kirchenslawische. Der Buchdruck begann in Vilnius im Jahre 1522 und erst 1564 in Moskau; die ersten kirchenslawischen Grammatiken erschienen in Polen-Litauen und wurden anschließend nach Moskau übermittelt; die ersten slawischen Kollegien wurden in Lwow und Kiew gegründet (1632 die Kiew-Mohyla-Akademie). Die führende Rolle Kiews in der russischen Bildung fand im 17. Jahrhundert ihre Fortsetzung.
     Die Verbindungen zur Kultur Rußlands vor der Kaiserzeit provozierten Aggressivität gegenüber Kiew als Quelle der eigenen Kultur, ähnlich wie die jüngsten Referenzen zur europäischen Kultur eine Aggression gegen den Westen provozieren, aber diesmal in diachroner Hinsicht. Die weit ältere Situation wird in den Köpfen russischer Politiker und Unterstützer des Krieges virtuell reprojiziert. Sie glauben, Kiew gehöre ihnen, und greifen die Ukraine mit dem Ziel der Einverleibung an. Dies verstärkt die Aggression gegen die Ukraine, weil sie zweifach motiviert ist, einerseits als Grenze der westeuropäischen Kultur und andererseits als historische Quelle der russischen Kultur.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.