LI 83, Winter 2008
Hoffnungszeichen
Die eigentliche Auseinandersetzung beginnt nach dem sieg ObamasElementardaten
Textauszug
(...) Die eigentliche Schlacht beginnt jetzt, nach dem Sieg – die Schlacht um die Beantwortung der Frage, was dieser Sieg bedeuten wird, vor allem im Kontext der beiden anderen, wesentlich unheilvolleren Zeichen der Geschichte: dem 11. September und der Finanzkrise. In welchem Zusammenhang stehen beide? Marx begann seine Schrift Der 18. Brumaire mit einer Korrektur von Hegels Idee, die Geschichte wiederhole sich zwangsläufig selbst. Hegel habe vergessen hinzuzufügen, daß sie sich zunächst als Tragödie und dann als Farce abspielt. Gilt dies nicht auch für die beiden Ereignisse, die Anfang und Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts kennzeichnen: die Terrorangriffe vom 11. September 2001 und die Finanzkrise 2008?
Die Ähnlichkeit von Präsident Bushs Wortwahl bei seinen Ansprachen an das amerikanische Volk nach dem 11. September und nach der Finanzkrise ist offenkundig. Sie klingen wie zwei Versionen derselben Rede. Beide Male beschwor er die Bedrohung des amerikanischen way of life und die Notwendigkeit schnellen und entschlossenen Handelns, um der Gefahr zu begegnen. Beide Male verlangte er eine partielle Aufhebung der US-amerikanischen Werte (die Garantie der individuellen Freiheit, Marktkapitalismus), um das zu bewahren, wofür diese Werte stehen. Woher nun rührt diese Ähnlichkeit?
Am 11. September 2001 rasten zwei Flugzeuge in das World Trade Center, zwölf Jahre zuvor, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Der 9. November kündigte die happy nineties an, Francis Fukuyamas Utopie vom „Ende der Geschichte“ : die Überzeugung, daß die liberale Demokratie im Prinzip gewonnen habe, daß die Suche nun vorüber sei, daß die Ankunft einer globalen, liberalen Weltgemeinschaft unmittelbar bevorstehe, daß die Hindernisse, die einem solchen ultrahollywoodmäßigen Ende noch entgegenstanden, rein empirischer und kontingenter Natur seien (lokale Widerstandsnester, in denen die Führer noch nicht begriffen hatten, daß ihre Zeit vorüber ist). Im Gegensatz hierzu ist der 11. September das wichtigste Sinnbild für das Ende der Clintonschen happy nineties und für den Anbruch des neuen Zeitalters, in dem überall neue Mauern entstehen: zwischen Israel und der West Bank, um die EU herum, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko.
Doch es scheint, als habe die Utopie Fukuyamas aus den Neunzigern zweimal sterben müssen. Der Zusammenbruch der liberaldemokratischen politischen Utopie am 11. September 2001 betraf nicht die ökonomische Utopie des globalen Marktkapitalismus; und wenn die Finanzkrise 2008 eine historische Bedeutung hat, dann als Zeichen für das Ende der ökonomischen Seite von Fukuyamas Utopie. Dies bringt uns auf Marx’ Hegelparaphrase zurück. Es sei daran erinnert, daß Herbert Marcuse in seiner Einleitung zu einer neuen Ausgabe des 18. Brumaire aus den Sechzigern die Schraube nochmals weiterdrehte: Manchmal kann die Wiederholung in Gestalt der Farce noch furchterregender sein als die ursprüngliche Tragödie. Die Finanzkrise mit ihrem furchterregend-komischen Charakter macht es möglich, die eklatante Irrationalität des globalen Kapitalismus zu ignorieren: Beim Kampf gegen AIDS, Hunger, Wassermangel, Erderwärmung usw. erkennen wir die Dringlichkeit dieser Probleme zwar an, aber es bleibt noch Zeit, nachzudenken und Entscheidungen aufzuschieben. (Man erinnere sich, daß der als Erfolg gefeierte Entschluß führender Politiker der Supermächte in Bali darin bestand, sich in zwei Jahren wiedertreffen zu wollen, um die Gespräche fortzusetzen …) Doch bei der Finanzkrise herrschte Einmütigkeit darüber, daß sofort gehandelt werden müsse, und es wurde binnen kürzester Zeit eine jegliche Vorstellungskraft übersteigende Geldsumme aufgetrieben.
Die Rettung bedrohter Arten, die Rettung des Planeten vor der globalen Klimaerwärmung, die Rettung der AIDS-Patienten, die Rettung von Kranken, die sterben, weil keine Mittel für teure Behandlungen und Operationen bereitstehen, die Rettung verhungernder Kinder … all das kann warten, doch der Aufruf „Rettet die Banken!“ ist ein Imperativ, der erfolgreich sofortiges Handeln bedingt. Die damit verbundene Panik war eine absolute. Die transnationale und überparteiliche Einheit war sofort hergestellt, alle Verstimmungen zwischen den führenden Politikern der Welt augenblicklich vergessen, um die Katastrophe abzuwenden. (Die vielgepriesene „Überparteilichkeit“ bedeutet letztlich nichts anderes, als daß selbst die demokratischen Verfahren außer Kraft gesetzt wurden: Man hatte keine Zeit, sich auf die eigentlich für einen solchen Fall vorgesehenen demokratischen Prozeduren einzulassen; diejenigen, die sich im amerikanischen Kongreß gegen den Plan wendeten, wurden schnell „auf Linie“ gebracht.) Und wir wollen auch nicht vergessen, daß diese erhabene Unsumme nicht für irgendeine klar umrissene „reale“ Aufgabe ausgegeben wurde, sondern im Grunde dafür, das Vertrauen in die Märkte wiederherzustellen, das heißt aus Glaubensgründen! Benötigen wir einen weiteren Beweis dafür, daß das Kapital das Reale unseres Lebens ist – das Reale, dessen Forderungen viel absoluter sind als selbst die dringlichsten Forderungen unserer sozialen und natürlichen Realität?
(...)