LI 38, Herbst 1997
Inhärente Überschreitung
Warum Hannah Arendt und Daniel Goldhagen unrecht habenElementardaten
Genre: Analyse, Kommentar
Übersetzung: Aus dem Englischen von Jens Hagestedt
Textauszug
(...) Dieser Rekurs auf die Struktur der inhärenten Überschreitung macht die Insuffizienz des Begriffs der "Banalität des Bösen" deutlich, den Hannah Arendt in ihrem berühmten Report über den Eichmann-Prozeß geprägt hat: eines Begriffs, der die Vorstellung treffen soll, Eichmann habe, weit entfernt, von einem dämonischen Willen, Leiden zu verursachen und Menschenleben zu vernichten, getrieben zu sein, als typischer Beamter nur seine Arbeit getan und Befehle ausgeführt, ohne sich über deren moralische oder andere Implikationen Gedanken zu machen, er habe den Befehl nur in seiner reinen, "langweiligen" symbolischen Form zur Kenntnis genommen, nicht aber die in ihn eingegrabenen Spuren des Imaginären oder, mit Kant zu sprechen, "Pathologischen" (die Schrecken, die seine Ausführung zur Folge haben würde, die privaten Motive des finanziellen Profits oder der sadistischen Befriedigung usw.). Es bleibt aber die Tatsache bestehen, daß die Durchführung des Holocaust vom nationalsozialistischen Apparat selbst als eine Art obszönes schmutziges Geheimnis behandelt wurde, daß sie nicht öffentlich zugegeben wurde und sich nicht einfach und direkt in die anonyme Maschine der Bürokratie übersetzen ließ. Um der Art und Weise gerecht zu werden, in der die Täter die Maßnahmen des Holocaust durchführten, sollte man daher die rein symbolische bürokratische Logik, die im Begriff der "Banalität des Bösen" mitgemeint ist, durch zwei andere Komponenten ergänzen: erstens durch den imaginären Schutzschirm der Befriedigungen, Mythen usw., der es den Subjekten ermöglichte, Distanz zu den (auf diese Weise "neutralisierten") Schrecken zu wahren, mit denen sie befaßt waren und von denen sie Kenntnis hatten, und der etwa darin bestand, daß man sich sagte, die Juden würden lediglich in neue Lager im Osten umgesiedelt, wobei nur eine kleine Zahl von ihnen ums Leben käme, oder daß man abends klassische Musik hörte und sich auf diese Weise davon überzeugte, "letzten Endes ein kultivierter Mensch zu sein, leider gewwungen, unangenehme, aber notwendige Dinge zu tun" usw.; zweitens vor allem durch das Reale der perversen (sadistischen) jouissance, d.h. des Genusses, den sie aus dem zogen, was sie taten (Quälen, Verstümmeln von Leibern, Töten). Man darf insbesondere nicht vergessen, daß gerade die "Bürokratisierung" des Verbrechens sich zu dessen libidinösem Einschlag zweideutig verhielt: Einerseits ermöglichte sie es den Beteiligten (oder manchen von ihnen), den Schrecken zu neutralisieren und die Arbeit als "Arbeit wie jede andere auch" zu betrachten; andererseits bestätigt sich auch hier die grundlegende Erkenntnis über das perverse Ritual, da diese "Bürokratisierung" per se eine Quelle zusätzlicher jouissance war. (Gibt es einem nicht einen zusätzlichen Kick, wenn man das Töten als komplizierten Verwaltungskriminalakt betreibt? Ist es nicht befriedigender, das Quälen der Häftlinge als Teil einer ordnungsgemäßen Prozedur zu betrachten? Verschaffte etwa die sinnlose "Morgengymnastik", die nur dazu diente, die Häftlinge zu quälen, der Befriedigung der Wächter nicht einen zusätzlichen "Kick", wenn sie ihren Opfern nicht dadurch Schmerzen zufügten, daß sie sie schlugen, sondern wenn sie es unter dem Vorwand einer Aktivität taten, die offiziell ihrer Gesundheit zugute kommen sollte?) Dies ist auch das Interessante an Goldhagens vieldiskutiertem Buch Hitlers willige Vollstrecker, einem Buch, an dessen Zurückweisung all der Standarderklärungen dafür, daß die "ordentlichen, anständigen" Deutschen bereit waren, sich am Holocaust zu beteiligen, unleugbar etwas Wahres ist. Man kann einfach nicht behaupten, daß die große Mehrheit nicht gewußt habe, was vor sich ging, daß sie von der Nazi-Bande als einer kleinen Minderheit terrorisiert worden sei: Sie wußten durchaus Bescheid, da genügend Gerüchte und sich selbst widerlegende Dementis zirkulierten. Man kann einfach nicht behaupten, daß sie graue, leidenschaftslose Bürokraten gewesen wären, die gemäß der deutschen Tradition von Autoritätshörigkeit und unbedingtem Gehorsam blind Befehle befolgten: Zahllose Aussagen bezeugen den exzessiven Genuß, den die Ausführenden aus ihrem Tun zogen (man denke etwa an die zahllosen Beispiele für "unnötige" zusätzliche Mißhandlungen und Erniedrigungen - indem man etwa auf den Kopf einer alten Jüdin urinierte usw.). Man kann einfach nicht behaupten, daß die Ausführenden ein Haufen verrückter Fanatiker gewesen seien, die selbst die elementarsten ethischen Normen vergessen hätten: Oft waren dieselben Menschen, die den Holocaust durchführten, imstande, sich in ihrem privaten oder öffentlichen Leben ehrenhaft zu verhalten, sich am kulturellen Leben zu beteiligen, gegen soziales Unrecht zu protestieren etc. Man kann einfach nicht behaupten, daß sie durch Terror zur Unterwerfung gezwungen worden seien, da jede Befehlsverweigerung streng bestraft worden wäre: Bevor sie aufgefordert wurden, irgendeine "schmutzige Arbeit" zu tun, wurden die Mitglieder der Polizei gewohnheitsgemäß gefragt, ob sie imstande wären, das Geforderte zu tun, und die, die sich weigerten, kamen ohne Strafe davon. Folglich ist die Ausgangsprämisse des Buches, das in puncto historischer Recherche hier und da problematisch sein mag, schlicht unbestreitbar: Die Täter hatten die Möglichkeit zu wählen, sie waren im allgemeinen voll verantwortliche, reife, "zivilisierte" Deutsche. Gleichwohl kommt Goldhagens Erklärung - daß die Tradition des extrem militanten Antisemitismus als das zentrale Ingrediens der "deutschen Ideologie" und somit der kollektiven deutschen Identität schon im 19. Jahrhundert voll etabliert gewesen sei - der Standardbehauptung einer "Kollektivschuld" zu nahe, die der faulen Ausrede des Verweises auf das kollektive Schicksal - "Was hätten wir tun können? Das kollektive ideologische Erbe hat uns doch prädeterminiert!" - Tür und Tor öffnet. Darüber hinaus scheint Goldhagen in seinen konkreten Beschreibungen (oder genauer in seinen Interpretationen konkreter Zeugnisse) die Art und Weise nicht in Rechnung zu stellen, in der Ideologie und Macht auf der Ebene ihrer "Mikrophysik" funktionieren. Man sollte ihm vorbehaltlos darin zustimmen, daß Arendts Begriff der "Banalität des Bösen" insofern unzureichend ist, als er - um es mit Lacanschen Begriffen zu sagen - den obszönen, nicht öffentlich zugegebenen Mehr-Genuß nicht in Rechnung stellt, den die Ausführung von Befehlen verschaffte und der in den "unnötigen" Exzessen bei dieser Ausführung zum Ausdruck kam (wie Goldhagen zeigt, pflegten die ranghöheren Offiziere zu diesen Exzessen nicht nur nicht zu ermutigen, sie tadelten vielmehr die unteren Ränge oft sogar dafür in gelinder Form - wenn auch nicht aus Mitleid mit den Juden, sondern weil sie solche Exzesse als unvereinbar mit der "Würde" eines deutschen Soldaten betrachteten). Aber trotz des öffentlichen Charakters des nationalsozialistischen Antisemitismus blieb die Verbindung zwischen den beiden Ebenen, dem Text der öffentlichen Ideologie und ihrem "obszönen" Überich-Supplement, voll erhalten: Sogar die Nazis selbst haben den Holocaust als eine Art kollektives "schmutziges Geheimnis" behandelt. Wobei diese Tatsache nicht nur kein Hindernis für die Durchführung des Holocaust darstellte, sondern geradezu als libidinöser Stützpfeiler diente, da das Bewußtsein, daß "wir alle gemeinsam drinhängen" und alle an einer gemeinsamen Überschreitung teilnehmen, "Kitt" für die kollektive Kohärenz des Nationalsozialismus war. Goldhagens Insistieren darauf, daß die Täter in der Regel keine "Scham" über das, was sie taten, empfunden hätten, ist somit fehl am Platz - wobei es ihm natürlich darauf ankommt, daß dieses Fehlen von Scham das Ausmaß erkennen lasse, in dem das Quälen und Töten der Juden als etwas vollkommen Akzeptables Bestandteil des ideologischen Bewußtseins der Täter gewesen sei. Gleichwohl zeigt eine genaue Lektüre der Zeugnisse seines eigenen Buches, daß die Täter ihre Taten als eine Art "Überschreitung", als eine Art pseudo-bachtinscher "karnevalesker" Aktivität erfuhren, bei der die Beschränkungen des "normalen" Alltagslebens für einen Augenblick aufgehoben waren - und daß genau dieser "Überschreitungs"-Charakter (gemessen an den öffentlich anerkannten ethischen Normen der nationalsozialistischen Gesellschaft) für den "Mehr-Genuß" verantwortlich war, den man aus dem exzessiven Quälen der Opfer zog. Das Schamgefühl beweist jedoch keineswegs, daß die Täter etwa "nicht völlig verdorben" gewesen wären, daß "sie sich ein Minimum an Anstand bewahrt hätten", sondern diese Scham war im Gegenteil ein unmißverständliches Indiz für den exzessiven Genuß, den sie aus ihren Taten zogen. Liegt somit, um zum Schlüsselelement in Goldhagens Argumentation zurückzukehren - die Angehörigen der deutschen Einheiten seien, bevor sie zur Teilnahme am Bombardement des Ghettos und am gewaltsamen Zusammentreiben der Juden beordert wurden, ausdrücklich gefragt worden, ob sie sich in der Lage sähen, diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen, und für die, die sich weigerten, hätte dies keinerlei Konsequenzen gehabt -, liegt somit nicht die Vermutung nahe, daß wir es - in gewissem Ausmaß zumindest - mit einer Situation der erzwungenen Entscheidung zu tun haben? Wobei eine solche Entscheidung aus eben diesem Grunde in gewisser Weise noch schlimmer war als der unverhüllte Zwang, da die Subjekte nicht nur gezwungen waren, an abstoßenden obszönen Gewaltakten teilzunehmen, sondern auch vorgeben mußten, es willentlich und aus freien Stücken zu tun. (Die Minderheit, die sich weigerte teilzunehmen, wurde wohl toleriert, um den Schein der freien Entscheidung aufrechtzuerhalten.) Doch kommt es uns darauf an, daß dieser subtile Zwang unter der Maske freier Entscheidung - du hast die Freiheit, dich selbst zu entscheiden und die Teilnahme zu verweigern, unter der einen Bedingung, daß du dich richtig entscheidest und zwar dafür, aus freien Stücken teilzunehmen - das Subjekt in keiner Weise von seiner Verantwortung befreit: Man ist insoweit verantwortlich, wie man genießt, es zu tun, und es ist klar, daß der subtile (unausdrückliche) Zwang die zusätzliche jouissance verschaffte, Teil eines größeren, transindividuellen Körpers zu sein und "mit dem kollektiven Willen zu schwimmen".
Heinrich Himmler hat dies mit seiner infamen Behauptung deutlich gemacht, daß der Holocaust eines der ruhmreichsten Kapitel der deutschen Geschichte sei, das aber leider ungeschrieben bleiben müsse - wobei dieser Behauptung die Vorstellung zugrunde liegt, daß man seine Liebe zum Vaterland nicht einfach durch edle Taten unter Beweis stellt (etwa dadurch, daß man sein Leben opfert), sondern durch die Bereitschaft, auch furchtbare Taten fürs Vaterland zu begehen, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, d.h. dadurch, daß man den Forderungen des Vaterlands den Vorrang einräumt vor kleinlichen Rücksichten auf die eigene Rechtschaffenheit; der wahre Held ist bereit, sich für die edle Sache die Hände schmutzig zu machen. Obwohl man derselben Logik in der stalinistischen Rechtfertigung des revolutionären Terrors begegnet, bedeutet dies doch keineswegs, daß der Nationalsozialismus die jouissance in derselben Weise wie der Stalinismus, d.h. gemäß irgendeinem universellen "totalitären" Mechanismus, mobilisiert habe. Der fundamentale Unterschied in dieser Hinsicht zwischen dem stalinistischen und dem faschistischen "Totalitarismus" läßt sich aus einem kleinen, aber aufschlußreichen Detail ersehen: Wenn der faschistische "Führer" seine öffentliche Rede beendet hat und die Menge applaudiert, präsentiert er sich selbst als den Adressaten des Applauses (er fixiert einen weit entfernten Punkt, verbeugt sich vor dem Publikum o.ä.), während der stalinistische Führer (etwa der Generalsekretär der Partei, wenn er dem Kongreß seinen Bericht erstattet hat) selber aufsteht und zu applaudieren beginnt. Dies bezeichnet eine fundamental andere diskursive Position: Der stalinistische Führer fühlt sich ebenso verpflichtet zu applaudieren wie die Leute, weil deren Applaus in Wahrheit nicht an ihn adressiert ist, sondern an den großen Anderen der Geschichte, dessen ergebener Diener und dessen Instrument er ist. Sofern Lacan zufolge die Ökonomie des Perversen durch die Position des Objekt-Instruments der jouissance des großen Anderen charakterisiert ist, kann man auch sagen, daß es sich hier um den Unterschied zwischen dem faschistischen Paranoiker und dem stalinistischen Perversen handelt. Was - um diesen Unterschied zu erläutern - etwa das Merkmal des "Beobachtetwerdens" betrifft, so ist der Paranoiker überzeugt, daß er bei seinen sexuellen Aktivitäten beobachtet werde - er "sieht einen Blick, wo in Wirklichkeit keiner ist" -, während der Perverse selbst für den Blick des anderen sorgt, der bei seinen sexuellen Aktivitäten Zeuge sein soll (indem er etwa einen Freund oder jemand Unbekannten bittet zuzusehen, während er mit seiner Frau schläft). Trat derselbe Unterschied nicht bei den angeblichen Verschwörungen gegen das Regime zutage? Die paranoiden Nationalsozialisten glaubten tatsächlich an die jüdische Verschwörung, während die perversen Stalinisten "konterrevolutionäre Verschwörungen" als Streiks sei es selbst organisierten, sei es erfanden. Für den stalinistischen Aufklärer gab es keine größere Überraschung als die Entdeckung, daß der Staatsbürger, der angeklagt war, deutscher oder amerikanischer Spion zu sein, tatsächlich ein Spion war: Im eigentlichen Stalinismus zählten Geständnisse nur insoweit, als sie falsch und durch Folter erzwungen waren. Worin haben wir den Grund für diesen Unterschied zu sehen? Hinsichtlich des Bruderpaares von Stalinismus und Faschismus zieht Heidegger insgeheim den Faschismus vor - ein Punkt, in dem wir es nicht mit ihm, sondern mit Alain Badiou halten, der die These aufgestellt hat, daß der stalinistische Kommunismus bei all den Untaten, die in seinem Namen begangen wurden (oder eher, im Namen der besonderen Form dieser Untaten), zuinnerst auf ein Wahrheitsgeschehen, ein "Ereignis" (nämlich die Oktoberrevolution) bezogen war, während der Faschismus ein Pseudo-Ereignis gewesen sei, eine Lüge unter der Maske von Authentizität. Badiou unterscheidet hier zwischen désastre (der stalinistischen "Ontologisierung" des Ereignisses zu einem positiven Strukturmerkmal des Seins) und desêtre (der faschistischen Imitation/ Inszenierung eines als "faschistische Revolution" bezeichneten Pseudo-Ereignisses): mieux vaut un desastre qu'un desêtre, da das desastre trotz allem zuinnerst auf das Ereignis bezogen ist, dessen desaströse Folge es ist, während das desêtre das Ereignis nur als ästhetisches, der Wahrheitssubstanz beraubtes Spektakel imitiert. Gerade aus diesem Grunde waren die stalinistischen Säuberungen so grausam und in gewisser Weise viel "irrationaler" als die faschistische Gewalt: Im Faschismus, selbst im nationalsozialistischen Deutschland, war es möglich zu überleben, den Schein eines "normalen" Alltagslebens zu wahren, wenn man sich nicht an oppositionellen politischen Aktivitäten beteiligte (und, natürlich, nicht jüdischen Ursprungs war), während im Stalinismus der späten dreißiger Jahre niemand sicher war, vielmehr jeder unerwarteterweise denunziert, eingesperrt und erschossen werden konnte. Das "Irrationale" des Nationalsozialismus, mit anderen Worten, hatte sich im Antisemitismus verdichtet, im Glauben an jüdische Verschwörungen, während das "Irrationale" des Stalinismus die ganze Gesellschaft durchzog. Aus diesem Grund suchte die Gestapo noch nach beweiskräftigen Spuren tatsächlicher Aktivitäten gegen das Regime, während die stalinistische Geheimpolizei klare und unzweideutige Fälschungen (frei erfundene Verschwörungen und Sabotagen usw.) herstellte. Diese Gewalt der kommunistischen Macht gegen die eigenen Mitglieder zeugt vom radikalen Selbstwiderspruch des Regimes, von der inhärenten Spannung zwischen dem kommunistischen Projekt und dem desastre seiner Realisierung, d.h. von der Tatsache, daß das Regime in einem "authentischen" revolutionären Projekt verwurzelt war, wobei die ständigen Säuberungen nicht nur notwendig waren, um die Spuren der Wurzeln des Regimes zu verwischen, sondern auch als eine Art von "Wiederkehr des Verdrängten", als Erinnerung an die radikale Negativität im Herzen des Regimes - ein Punkt, den Nikita Michalkows Film Burned By the Sun (1994) perfekt dargestellt hat, mit der Geschichte des letzten Tages, den der mit einer jungen schönen Frau glücklich verheiratete Oberst Kotow, ein hochrangiges Mitglied der Nomenklatura und berühmter Held der Revolution, in Freiheit verlebt. Im Sommer 1936 verbringt Kotow mit seiner schönen jungen Frau und seiner Tochter einen idyllischen Sonntag in seiner Datscha, als ihnen Dimitri, ein ehemaliger Geliebter von Kotows Frau, einen unerwarteten Besuch abstattet. Was mit Spielen, Singen und dem Schwelgen in Erinnerungen beginnt, wird später zum Alptraum: Als Dimitri mit Kotows Frau flirtet und die Tochter mit Geschichten und Musik entzückt, wird es Kotow bald klar, daß Dimitri ein Agent des NKWD ist, gekommen, um Kotow, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigt, als Verräter zu verhaften. Entscheidend ist hier das völlig Willkürliche und Unsinnige von Dimitris gewaltsamem Einfall, der den Frieden des idyllischen Sommertags zerstört: Die Idylle muß als Emblem für die neue Ordnung gelesen werden, in der die Nomenklatura ihre Herrschaft stabilisierte, so daß die Intervention des NKWD-Agenten, der das Idyll zerstört, gerade in seiner traumatischen Willkür oder, mit Hegel zu sprechen, "abstrakten Negativität" von der fundamentalen Falschheit dieses Idylls zeugt, d.h. von der Tatsache, daß die neue Ordnung im Verrat an der Revolution gründet. Die stalinistischen Säuberungen der Partei von hochrangigen Mitgliedern basierten auf diesem Verrat: Die Angeklagten waren insofern schuldig, als sie als Mitglieder der neuen Nomenklatura die Revolution verrieten. Der stalinistische Terror ist somit nicht bloß der Verrat an der Revolution, d.h. der Versuch, die Spuren der authentischen revolutionären Vergangenheit zu tilgen. Er zeugt vielmehr von einer Art "Gespenst der Perversion", das die nachrevolutionäre neue Ordnung zwingt, ihren Verrat an der Revolution in sich selbst (wieder) einzuschreiben, ihn unter dem Deckmantel willkürlicher Inhaftierungen und Ermordungen, die allen Mitgliedern der Nomenklatura drohten, zu "reflektieren" oder zu "markieren"; wie in der Psychoanalyse verdeckt das stalinistische Schuldbekenntnis die wahre Schuld. (Bekanntlich rekrutierte Stalin für den NKWD klugerweise Menschen von geringerer sozialer Abstammung, die damit in der Lage waren, ihren Haß auf die Nomenklatura durch die Inhaftierung und Folterung hoher Apparatschiks auszuagieren.) Diese inhärente Spannung zwischen der Stabilität der Herrschaft der neuen Nomenklatura und der pervertierten "Wiederkehr des Verdrängten" unter dem Deckmantel der wiederholten Säuberungen von Rängen der Nomenklatura gehört zum innersten Kern des stalinistischen Phänomens: Die Säuberungen sind die Form, in der das verratene revolutionäre Erbe überlebt und das Regime heimsucht. Der Traum von Gennadij Sjuganow, dem kommunistischen Präsidentschaftskandidaten von 1996 - daß in der Sowjetunion alles gut geworden wäre, wenn Stalin wenigstens fünf Jahre länger gelebt und sein letztes Projekt, mit dem Kosmopolitismus Schluß zu machen und die Versöhnung zwischen dem russischen Staat und der orthodoxen Kirche herbeizuführen (sein Projekt also der antisemitischen Säuberung), verwirklicht hätte -, zielt genau auf den Punkt der Befriedung, an dem das revolutionäre Regime endlich der ihm inhärenten Spannung ledig geworden wäre und sich hätte stabilisieren können, wobei das Paradox natürlich darin besteht, daß Stalins letzte Säuberung, die geplante "Mutter aller Säuberungen", die im Sommer 1953 stattfinden sollte und durch seinen Tod verhindert wurde, hätte erfolgreich sein müssen, um diese Stabilität zu erreichen.
(...)