LI 66, Herbst 2004
Wagner erlösen
Oder Helden müssen lernen, das Elend der Sterblichen anzunehmenElementardaten
Textauszug
(...) Wagner ein Protofaschist? Warum lassen wir nicht diese Suche nach den protofaschistischen Elementen bei Wagner und schreiben Parsifal neu in die Tradition der radikalen revolutionären Parteien ein? Vielleicht erlaubt uns eine solche Interpretation auch, neues Licht auf den Zusammenhang zwischen Parsifal und dem Ring zu werfen. Der Ring beschreibt eine heidnische Welt, die ihrer inneren Logik zufolge in einer globalen Katastrophe enden muß. Aber es gibt Überlebende dieser Katastrophe, die namenlose Masse der Menschheit, die schweigend Zeuge von Gottes Selbstzerstörung wird. In der singulären Figur Hagens gibt der Ring auch das erste Porträt dessen, was später als faschistischer Führer auf der Bildfläche erscheinen wird. Da die Welt des Rings aber heidnisch ist, gefangen im ödipalen Familienkonflikt der Leidenschaften, kann das Werk nicht einmal das wahre Problem angehen, wie diese Menschheit, die Kraft des Neuen, sich organisieren und die Wahrheit über ihren Ort erkennen sollte. Dies ist die Aufgabe des Parsifal, der damit in der logischen Nachfolge des Rings steht. Der Konflikt zwischen der ödipalen Dynamik und dem postödipalen Universum ist dem Parsifal selbst eingeschrieben: Klingsors und Amfortas' Abenteuer sind ödipal; was mit Parsifals großer Wandlung (der Zurückweisung Kundrys) geschieht, ist, daß er die ödipale inzestuöse Erotik hinter sich läßt und sich für eine neue Gemeinschaft öffnet.
Die düstere Figur Hagens ist zutiefst ambivalent: Er, der ursprünglich, sowohl im Nibelungenlied als auch in Fritz Langs Film, als düsterer Verschwörer eingeführt wird, stellt sich letztlich als der Held des ganzen Werkes heraus und wird als höchster Fall von Nibelungentreue, der Treue zur eigenen Sache (oder genauer: zum Herrn, der für diese Sache steht) bis in den Tod, wie sie im abschließenden Gemetzel am Hofe Attilas gefeiert wird, erlöst. Der Konflikt ist hier der zwischen der Treue zum Herrn und unseren alltäglichen moralischen Pflichten: Hagen steht für eine Art teleologischer Suspendierung der Moral um der Treue willen, er ist der „Gefolgsmann" schlechthin.
Interessanterweise wird Hagen nur von Wagner als Figur des Bösen dargestellt: Ist dies nicht bezeichnend dafür, inwiefern Wagner trotz allem der modernen Sphäre der Freiheit angehört? Und ist Langs Rückkehr zum positiven Hagen nicht bezeichnend dafür, daß das 20. Jahrhundert durch das Aufkommen einer neuen Barbarei geprägt war? Wagners Genie ließ ihn seiner Zeit voraus sein und die aufkommende Figur des ruchlosen faschistischen Vollstreckers erahnen, der zugleich volksverhetzender Demagoge ist (man erinnere sich an Hagens furchtbaren „Männerruf") – eine würdige Ergänzung zu seiner anderen großen Vorahnung, der der hysterischen Frau (Kundry), lange bevor diese Figur das europäische Bewußtsein überschwemmte (in Charcots Klinik, in der Kunst von Ibsen bis Schönberg).
Was Hagen zum „Protofaschisten" macht, ist seine Rolle als bedingungsloser Helfer des schwachen Regenten (König Gunther): Er erledigt für Gunther die „schmutzigen Arbeiten", die zwar getan, aber vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen werden müssen – „Unsere Ehre heißt Treue." Wir finden diese Haltung, eine Art Spiegelbild der „schönen Seele", die es ablehnt, sich die Hände schmutzig zu machen, in Reinkultur in der Bewunderung der Rechten für die Helden, die bereit sind, die unumgängliche schmutzige Arbeit zu verrichten: Es ist leicht, für das eigene Land Ehrenhaftes zu tun, bis hin zur Opferung des eigenen Lebens – es ist viel schwerer, für das eigene Land ein Verbrechen zu begehen, wenn es notwendig ist. Hitler wußte dieses Doppelspiel im Holocaust, in dem er Himmler als seinen Hagen benutzte, ausgezeichnet zu spielen. In seiner Rede vor den SS-Führern in Posen am 4. Oktober 1943 sprach Himmler ganz offen von der massenhaften Ermordung der Juden als einem „niemals geschriebene[n] und niemals zu schreibende[n] Ruhmesblatt unserer Geschichte", wobei er die Ermordung von Frauen und Kindern, weil diese sonst zu Rächern an den folgenden Generationen heranwachsen würden, ausdrücklich einschloß; dieses Volk müsse von der Erde verschwinden.
Das ist Hagens Treue, ins Extrem getrieben. Aber bestand der paradoxe Preis für Wagners negative Darstellung Hagens nicht in dessen Judifizierung? In letzter Zeit ist eine Menge historistischer Arbeit dem Versuch gewidmet worden, die kontextbezogene „wahre Bedeutung" der Wagnerschen Figuren und Themen zu eruieren: Der bleiche Hagen ist danach in Wirklichkeit ein masturbierender Jude, hinter Amfortas' Wunde verbirgt sich Syphilis und so weiter. Hinter diesen Versuchen steht die Vorstellung, Wagner habe historische Codes mobilisiert, die in seiner Epoche jedermann bekannt gewesen seien: Wenn ein Mensch stolpere, mit krächzender, hoher Stimme singe, nervös gestikuliere und so weiter, dann habe „jeder gewußt", daß dies einen Juden darstellen solle. So sei die Figur des Mime aus dem Siegfried die Karikatur eines Juden. Die Angst vor Syphilis als der Krankheit in der Leistengegend, die man sich beim Geschlechtsverkehr mit einer „unreinen" Frau hole, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine Obsession, so daß „jedem klar gewesen" sei, daß Amfortas sich von Kundry in Wirklichkeit die Syphilis geholt habe. Marc Weiner hat die klarste Version dieser Decodierung entwickelt, indem er sich auf die Mikrotextur der Wagnerschen Musikdramen – auf die Art zu singen, auf Gesten und Gerüche – konzentriert hat. Diese Ebene dessen, was Deleuze als vorsubjektive Affekte bezeichnet hätte, ist es, auf der der Antisemitismus in Wagners Opern am Werk ist, auch wenn von Juden gar nicht ausdrücklich die Rede ist: die Ebene der Art und Weise, wie Beckmesser singt und Mime klagt.
Das erste Problem, das hier entsteht, ist aber, daß solche Einsichten, selbst wenn sie tatsächlich welche sind, nicht viel zum richtigen Verständnis des betreffenden Werkes beitragen. Es wird oft behauptet, daß man, um ein Kunstwerk zu verstehen, seinen historischen Kontext kennen müsse. Diesem historistischen Gemeinplatz wäre entgegenzuhalten, daß zuviel historischer Kontext den angemessenen Umgang mit einem Kunstwerk auch unmöglich machen kann. Um, sagen wir, Parsifal angemessen zu begreifen, sollte man daher von solchen historischen Trivialitäten abstrahieren und das Werk dekontextualisieren, es aus dem Kontext, in den es ursprünglich eingebettet war, herausnehmen. Ja mehr noch, es ist umgekehrt das Kunstwerk, das einen Kontext bereitstellt, der es uns ermöglicht, eine gegebene historische Situation angemessen zu verstehen. Wer heute nach Serbien reisen wollte, den würde der unmittelbare Kontakt mit den dortigen rohen Gegebenheiten verwirren. Würde er aber eine Reihe literarischer Werke lesen und ein paar repräsentative Filme sehen, so würde ihm dies mit Sicherheit den Kontext liefern, der es ihm ermöglichte, den Rohdaten seiner Erfahrung ihren Platz zuzuweisen. In der alten zynischen Weisheit aus der stalinistischen Sowjetunion „Er lügt, obwohl er Augenzeuge ist!" liegt somit eine unerwartete Wahrheit.
Das historistische Decodieren schafft noch ein weiteres, fundamentaleres Problem: Es genügt nicht, Alberich, Mime, Hagen und so weiter als Juden zu „decodieren" und diesen Befund dann zu der These zuzuspitzen, daß es sich beim Ring um einen großen antisemitischen Traktat handle, um eine Geschichte darüber, wie die Juden, indem sie der Liebe abschworen und sich für die Macht entschieden, die Welt ins Verderben stürzten. Das fundamentalere Faktum ist, daß die antisemitische Figur des Juden selbst kein unmittelbarer, letzter Referent, sondern bereits codiert ist, Chiffre ideologischer und sozialer Antagonismen. (Dasselbe gilt für die Syphilis: Zusammen mit der Tuberkulose, dem anderen großen Fall von „Krankheit als Metapher" (Susan Sontag), diente sie in der zweiten Hälfte des 19._Jahrhunderts als codierte Botschaft über soziosexuelle Antagonismen; dies ist der Grund dafür, daß die Menschen von ihr so besessen waren - also nicht wegen der mit ihr verbundenen unmittelbar realen Bedrohung, sondern wegen des ideologischen Überschusses an ihr.) Eine angemessene Interpretation Wagners sollte diese Tatsache berücksichtigen. Sie sollte sich nicht darauf beschränken, Alberich als Juden zu „decodieren", sondern auch die Frage stellen, in welcher Weise Wagners Codierung sich auf den „ursprünglichen" sozialen Antagonismus bezieht, von dem die antisemitische Figur des „Juden" selbst bereits eine Chiffre ist.
Ein weiteres Gegenargument gegen das historistische Decodieren ist, daß Siegfried, Mimes Gegenspieler, keineswegs nur der schöne arische blonde Held, sondern sein Porträt bei weitem zwiespältiger ist. Die kurze letzte Szene des ersten Aktes der Götterdämmerung (Siegfrieds gewaltsame Entführung Brünnhildes; unter dem Schutz des Tarnhelms gibt Siegfried sich als Gunther aus) ist ein schockierendes Zwischenspiel von äußerster Brutalität, ein geisterhafter Alptraum. Was sie noch interessanter macht, ist eine der großen Inkonsistenzen des Rings: Warum legt Siegfried, nachdem er Brünnhilde auf brutale Weise überwältigt hat, sein Schwert zwischen sie und sich, als beide zu Bett gegangen sind – um zu beweisen, daß sie nicht miteinander schlafen werden, da er seinem Freund, dem schwachen König Gunther, nur einen Freundesdienst erweist? Wem muß er das beweisen? Sollte man nicht erwarten, daß Brünnhilde denkt, er sei Gunther? Bevor sie überwältigt wird, zeigt Brünnhilde dem getarnten Siegfried ihre Hand mit dem Ring, im Vertrauen, daß der Ring sie beschützen werde. Wenn Siegfried ihr den Ring brutal vom Finger reißt, ist diese Geste als Wiederholung der ersten äußerst gewaltsamen Entwendung des Ringes in der vierten Szene von Rheingold zu interpretieren, in der Wotan Alberich den Ring vom Finger zieht. Das Furchtbare dieser Szene ist, daß sie Siegfrieds Brutalität nackt, im Rohzustand zeigt: Sie „entpsychologisiert" Siegfried in gewisser Weise, macht ihn als unmenschliches Monster erkennbar, das heißt als das, was er „in Wirklichkeit ist", ohne täuschende Maske – dies ist die Wirkung, die der Zaubertrank auf ihn hat.
In Wagners Siegfried liegt im Grunde eine ungehemmte, „unschuldige" Aggressivität, ein Drang, unmittelbar zur Tat zu schreiten und einfach zu zerschmettern, was einem auf die Nerven geht – so wie sie sich in den Worten ausdrückt, die Siegfried im ersten Akt des Siegfried an Mime richtet: „Seh' ich dich steh'n, gangeln und geh'n, / knicken und nicken, / mit den Augen zwicken, / beim Genick möcht' ich den Nicker packen, / den Garaus geben dem garst'gen Zwicker!" Der Ausbruch wiederholt sich zweimal im zweiten Akt: „Das eklige Nicken / und Augenzwicken, / wann endlich soll ich's / nicht mehr seh'n, / wann werd' ich den Albernen los?" Und wenig später: „Grade so garstig, / griesig und grau, / klein und krumm, / höckrig und hinkend, / mit hängenden Ohren, / triefigen Augen – / Fort mit dem Alb! / Ich mag ihn nicht mehr seh'n." Ist dies nicht der elementarste Ekel, das elementarste Abgestoßensein, wie ein Ich es empfindet, wenn es mit dem sich aufdrängenden fremden Körper konfrontiert wird? Man kann sich gut einen Neonazi-Skinhead vorstellen, der einem abgekämpften türkischen Gastarbeiter genau dieselben Worte ins Gesicht schleudert.
Schließlich sollte man nicht vergessen, daß die Quelle alles Bösen im Ring keineswegs Alberichs fatale Wahl in der ersten Szene des Rheingold ist: Schon lange vor diesem Ereignis hatte Wotan das natürliche Gleichgewicht gestört, indem er dem Köder der Macht verfiel und dieser den Vorzug vor der Liebe gab: Er riß die Weltesche aus und vernichtete sie, um aus ihr seinen Speer zu fertigen, in den er die Runen ritzte, die die Gesetze seiner Herrschaft fixierten, und er riß sich eines seiner Augen aus, um der inneren Wahrheit teilhaftig zu werden. Das Böse stammt somit nicht von außen – die Einsicht Wotans in seinem tragischen „Monolog mit Brünnhilde" im zweiten Akt der Walküre ist die, daß er letztlich selbst schuld an Alberichs Macht und der Aussicht auf das „Ende der Welt" ist, daß sie das Ergebnis seines eigenen ethischen Fiaskos sind. Hegelianisch gesprochen: Der Gegensatz im Außen ist verursacht durch einen Widerspruch im Innern. Kein Wunder also, daß Wotan der „weiße Alb" genannt wird, gegenüber dem „schwarzen Alb" Alberich. Wenn überhaupt, dann war Wotans Wahl ethisch niedriger als die Alberichs: Alberich sehnte sich nach Liebe und griff erst nach der Macht, als er von den Rheintöchtern brutal verhöhnt und abgewiesen worden war, während Wotan nach der Macht griff, nachdem er die Früchte der Liebe ausgekostet hatte und ihrer überdrüssig geworden war. Man sollte auch bedenken, daß Wotan sich nach seinem moralischen Fiasko in der Walküre in den „Wanderer" verwandelt – die Figur des heimatlosen Juden, wie es schon der erste große Wagnersche Held, der Fliegende Holländer, dieser „Ahasver des Ozean", gewesen war.
Dasselbe gilt für den Parsifal, in dem es nicht um einen elitären Zirkel von Reinblütigen geht, die von der Berührung mit dem Außen (der Vergewaltigung durch die Jüdin Kundry) bedroht würden. Dieses Bild weist nämlich zwei Komplikationen auf: Erstens ist Klingsor, der böse Zauberer und Kundrys Herr, selbst ehemaliger Gralsritter, ein Insider; zweitens wird, wenn man den Text genau liest, der Befund unausweichlich, daß die wahre Quelle des Bösen, das primordiale Ungleichgewicht, das die Gralsgemeinschaft entgleisen ließ, sich in ihrem Zentrum befindet – am Ursprung des Unglücks steht Titurels exzessives Fixiertsein auf den Genuß des Grals. Die wahre Figur des Bösen ist Titurel, dieser obszöne père-jouisseur (vergleichbar vielleicht mit den riesigen wurmartigen Mitgliedern der Weltraumgilde aus Frank Herberts Film Dune [Der Wüstenplanet]), deren Körper aufgrund ihres exzessiven Verzehrs des „Gewürzes" in ekelhafter Weise verunstaltet sind).
All dies unterminiert die antisemitische Perspektive, nach der die Störung letztlich immer von außen kommt, in Gestalt eines fremden Körpers, der das Gleichgewicht des sozialen Organismus stört: Für Wagner ist der äußere Störenfried (Alberich) nur eine sekundäre Wiederholung, Externalisierung einer absolut immanenten Inkonsistenz, eines absolut immanenten Antagonismus (in Gestalt von Wotan). Frei nach Brechts berühmtem „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" ist man versucht zu sagen: „Was ist der Diebstahl des Goldes durch einen armen Juden gegen die Gewaltsamkeit, mit der der Arier (Wotan) die Herrschaft des Gesetzes begründet hat?"
(...)