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Cover Lettre International 80, Philip Taaffe
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Inhaltsverzeichnis

LI 80, Frühjahr 2008

Die Bombe im Kopf

Atomare Bedrohungen, nukleare Illusionen, Abrüstungsoptionen

Tom Engelhardt: Machen wir eine kleine Reise durch die Welt der Nuklearwaffen.

Jonathan Schell: Während des Kalten Krieges befand sich das nukleare Zeitalter sozusagen noch in der Pubertät. Nuklearwaffen waren eine Angelegenheit, die zwei Mächte oder vielleicht fünf bis sechs unter sich ausmachten. Jetzt sind wir in seinem besten Alter angekommen. Es gibt inzwischen neun Atommächte und einen Haufen Clubanwärter, die schon in den Startlöchern sitzen. Mittlerweile bewahrheitet sich, was von Anfang an in der Möglichkeit der Bombe angelegt zu sein schien: Sie ist jedem zugänglich, der sie haben will, unabhängig davon, ob man die Absicht hat, sie zu bauen oder nicht.

In gewisser Weise werden wir erst jetzt mit der Unausweichlichkeit der nuklearen Gefahr, mit ihrem eigentlichen Wesen konfrontiert. Wann immer es Schlüsselmomente gab im nuklearen Zeitalter, war die Öffentlichkeit angesichts der Gefährdung von Sorge erfüllt. Wenn nicht alles täuscht, ist heute wieder so ein Moment gekommen. Jeder, der gegen Atomwaffen demonstriert oder seine Stimme dagegen erhoben hat, sollte sich schon mal für den Kampf rüsten.

Früher hätten wir gesagt, daß gerade die Pattsituation des Kalten Krieges, in der sich zwei Supermächte mit Zehntausenden von Waffen gegenüberstanden, die wesentliche Ausprägung des nuklearen Zeitalters gewesen sei.

Das ist ein Trugschluß. In Wirklichkeit bildete der Kalte Krieg nur einen vorübergehenden Deckmantel für eine Bedrohung, die in zweierlei Hinsicht universal war: Zum einen konnte sie alle und jeden vernichten, zum anderen konnte sich auf lange Sicht jeder die Bombe besorgen. So weit ist es noch nicht, aber wir haben den Punkt erreicht, an dem die Bombentechnologie oder auch nur eine einzige fertige Bombe in die Hände einer Gruppe von Terroristen gelangen könnte.

Diese Möglichkeit ist in den genetischen Code der Bombe einprogrammiert. Wenn eine Terrorgruppe erst einmal über eine solche Waffe verfügt, ist Abschreckung – jenes Relikt aus dem Kalten Krieg – keine Option mehr. Diese vermeintliche Lösung, die mehr schlecht als recht vier Jahrzehnte lang funktionierte, ist im Grunde genommen vom Tisch. Eine andere Lösung muß her, eine, die auf diese ausgereifte Form der Gefahr zugeschnitten ist, wo Waffen an jeder Ecke auftauchen könnten.

Das ist eine neue Crux, die aber bereits 1945 von den am „Manhattan-Projekt“ beteiligten Wissenschaftlern, den Schöpfern der ersten Bombe, gesehen wurde. Sie begriffen, was auf die Welt zukommen würde. Deshalb entwickelten sie umgehend einen Vorschlag für ein generelles Verbot von Atomwaffen – den sogenannten Lilienthal-Acheson-Plan. Ihre damalige Einsicht verdankte sich einem Gedankenspiel, das auf wissenschaftlichen Überlegungen und auf ihren intimen Kenntnissen über die Physik der Bombe beruhte. Heute wird die Welt, die sie mit Schrecken vorausahnten, langsam zur Realität: Nordkorea ist eine Atommacht – und das im Chaos versinkende Pakistan ebenfalls.

In Ihrem neuen Buch The Seventh Decade verweisen Sie darauf, daß die Bush-Doktrin uns in eine Situation hineinmanövriert hat, die uns all dies paradoxerweise um so deutlicher vor Augen führt.

Die Bush-Doktrin hatte einen Vorteil. Da sie eine imperiale Strategie verkörperte – die USA stoppen die Weiterverbreitung von Atomwaffen nötigenfalls mit militärischer Gewalt –, zielte sie auf eine universale Lösung ab. Dummerweise ging die Strategie nach hinten los, sie hat einen riesigen Scherbenhaufen hinterlassen. Wir haben Krieg geführt in einem Land, das keine Nuklearwaffen besaß, und währenddessen zugelassen, daß Nordkorea sich die Bombe beschaffte.

Seit dem Ende des Kalten Krieges verfügen wir also über keine wirkungsvolle Strategie im Umgang mit der nuklearen Bedrohung mehr. Heute sehen wir uns aber zum ersten Mal gezwungen, eine Strategie zu entwickeln, die der Gefahr in ihrem Kern begegnet. Insofern diese Gefahr universaler Natur ist, da sich jedes Land – oder eine Terrorgruppe – der Bombe bemächtigen könnte, brauchen wir eine universale Lösung, die nur darin bestehen kann, was den Atomwissenschaftlern bereits 1945 vorschwebte: nämlich in einer kompletten Kehrtwende, der völligen Abschaffung und dem generellen Verbot von Nuklearwaffen und der Atomwaffentechnologie.

Lassen Sie uns, bevor wir auf das Thema Abschaffung zusteuern, noch einmal zu den Anfängen zurückkehren. Sie haben wiederholt festgestellt, daß Nuklearwaffen, die vielleicht furchteinflößendsten Objekte der Welt, im Grunde nicht in militärischen Arsenalen lagern, sondern im menschlichen Geist. Was meinen Sie mit der „Bombe im Kopf“?

Es handelt sich dabei um den Ursprung des nuklearen Dilemmas. Die Bombe ist das Ergebnis der grundlegenden Entdeckungen der Physik des 20.?Jahrhunderts, insbesondere ihrer bekanntesten Gleichung – Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat –, mit der sich die Energiemenge beziffern läßt, die durch Nuklearwaffen freigesetzt wird. Als Produkt der Wissenschaft ist die Bombe grundsätzlich ein Gedankenkonstrukt, was bedeutet, daß sie immer da ist und immer da sein wird, auch wenn wir die Hardware abschaffen. Die Bombe im Kopf wird für immer bleiben.

Bevor die Bombe im physischen Sinne existierte, gab es die von Wissenschaftlern erfundene Bombe, dazu bestimmt, früher oder später zum Allgemeingut eines jeden klugen und technisch veranlagten Kopfes dieser Welt zu werden. Das hat dazu geführt, daß eine zunehmende Zahl von Ländern – momentan sind es etwa fünfzig – Nuklearwaffen herstellen könnten, wenn sie wollten. Umgekehrt heißt dies, daß diese Länder nur dann nicht über die Bombe verfügen werden, wenn sie die politische Entscheidung treffen, sie nicht zu bauen.

Daraus folgt ebenso zwingend, daß dieses globale Problem nur mit politischen Mitteln lösbar ist. Genauer gesagt, es kann nicht mit militärischen Mitteln aus der Welt geschafft werden.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.