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Cover Lettre International 85, Daniel Richter
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Inhaltsverzeichnis

LI 85, Sommer 2009

Stimmen aus dem Dunkel

Der Bericht des Roten Kreuzes zur Folter in geheimen US-Gefängnissen

Wir hoffen, daß Zeit und Wahlen allein genügen werden, damit sich unser Land von seinem tiefen moralischen Fall erholt. Doch dieser Wunsch ist vergeblich. Seit vergangenem November haben sich George W. Bush und seine Regierung anscheinend immer schneller von uns entfernt, einem dunklen Kometen gleich, der zum Ende des Universums rast. Die Wendung „Krieg gegen den Terror“ – noch vor kurzem Kernbotschaft einer Regierung und Lieblingsmotto eines Staatsoberhauptes, das sich stolz einen „Präsidenten in Kriegszeiten“ nannte – wird heute kaum noch ohne Anführungszeichen benutzt. Sie klingt fragwürdig und einigermaßen peinlich wie etwas, das unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Dennoch sind wir auf Schritt und Tritt mit den Entscheidungen konfrontiert, die dieser Präsident nach den Attentaten vom 11. September 2001 fällte. Ob die Auslieferung von Gefangenen an Folterstaaten, ob überwachungsstaatliche Methoden, ob brutale Verhörtechniken – die Trümmer seiner Politik liegen überall herum. Niemand bekennt sich zu ihnen, und niemand will sie bergen.

Wie können wir anfangen, über dieses Thema zu sprechen? Vielleicht mit einer Geschichte. Geschichten kommen zu uns mit der Unschuld von Neugeborenen, und sie verheimlichen ihre Absichten nicht: Es war einmal, am Anfang war … Wenige Worte genügen, damit wir wissen, was uns erwartet. Hier ist ein Beispiel:

„Ich wachte auf und war nackt auf ein Bett gefesselt, in einem sehr weißen Raum. Dieser Raum war ungefähr vier mal vier Meter groß und hatte drei gemauerte Wände. Die vierte Wand bestand aus Metallstäben, die eine Abtrennung zu einem größeren Raum bildeten. Wie lange ich auf diesem Bett lag, weiß ich nicht genau.“

Ein namenloser Mann, nackt auf ein Bett gefesselt, und ansonsten nur die elementaren Tatsachen von Zeit und Raum, von grellem Weiß.

Der Erzähler ist ein Mann aus unserer Zeit. Im Frühjahr 2002, am Beginn des „Krieges gegen den Terror“, betrat er das dunkle Reich der „Verschwundenen“. Erst viereinhalb Jahre später kam er mit 13 anderen high value detainees („Gefangenen von besonderem Wert“) in Guantánamo an. Dort konnte er Vertretern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) von seinen Erlebnissen erzählen. Als der eigentlich vertrauliche Bericht des IKRK  seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, kam auch er wieder zum Vorschein. Inzwischen ist er eine Berühmtheit. Seine Karriere folgte einer Entwicklung, die für die Gegenwart charakteristisch ist: Dschihadist, Verbrecher, Terrorist, „Verschwundener“. Der Mann ist eine Art Weltstar, und jeder von uns hat zumindest einen seiner Namen schon gehört. Schließlich wird kaum jemandem die Ehre zuteil, daß der Präsident der Vereinigten Staaten in einer landesweit ausgestrahlten Ansprache beschreibt, wie es ihm in letzter Zeit ergangen ist.

„Wenige Monate nach dem 11. September 2001 haben wir einen Mann festgenommen, der unter dem Namen Abu Zu-baida bekannt ist. Wir glauben, daß Zubaida ein hochrangiger Terrorist und enger Vertrauter von Osama Bin Laden war. (…) Zubaida wurde bei dem Schußwechsel, der ihn in unseren Gewahrsam brachte, schwer verwundet. Er überlebte nur dank der medizinischen Versorgung, die ihm die CIA zukommen ließ.“

Eine spannende Geschichte und eine Sensationsmeldung. Verwundet bei einer Schießerei im pakistanischen Faisalabad. Schußwunden im Magen, Unterleib und Oberschenkel nach einem Sprung vom Dach in einem letzten, verzweifelten Fluchtversuch. Starke Blutungen. Einlieferung in ein Militärkrankenhaus in Lahore. In Baltimore erhält ein Unfallchirurg spät nachts einen Anruf vom Chef der CIA und wird unter größter Geheimhaltung ans andere Ende der Welt geflogen. Der Verwundete entgeht dem Tod nur knapp. Sein Zustand stabilisiert sich allmählich, und er wird heimlich auf einen Militärstützpunkt in Thailand gebracht. Von dort geht seine Reise zurück nach Afghanistan. Oder war es doch nicht Afghanistan?

Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Denn als der Mann namens Abu Zubaida am 28. März 2002 gefangen wurde, verließ er die geheime Welt der seit dem 11. September untergetauchten al-Qaida-Anführer und betrat eine andere – ein „unsichtbares globales Netzwerk von Gefangenenlagern“, das zur Inhaftierung und Vernehmung diente. Es wurde von der CIA aufgrund von Befugnissen geschaffen, die Präsident Bush persönlich am 17. September 2001 in einer „Verständigungsnotiz“ erteilt hatte.

Teil dieses geheimen Systems waren Gefängnisse auf Militärstützpunkten rund um die Welt, von Thailand und Afghanistan bis Marokko, Rumänien und Polen. Nach Berichten gab es „derartige Internierungslager zu verschiedenen Zeiten in acht Ländern“. Insgesamt sollen über hundert Gefangene darin verschwunden sein. Das Netz der black sites verfügte über eine eigene Flugzeugflotte und praktizierte ein besonderes „Überstellungsverfahren“. Laut den Autoren des IKRK-Berichts war es „in den meisten Fällen weitgehend standardisiert“ und lief ungefähr folgendermaßen ab:

„Der Häftling wurde vor und nach der Überstellung sowohl bekleidet als auch nackt photographiert. Körperöffnungen wurden geprüft (Rektaluntersuchung), und einige Häftlinge erklärten, daß ihnen dabei auch ein Suppositorium eingeführt worden sei (dessen Art und Wirkung ihnen nicht bekannt war).

Der Häftling mußte eine Windel tragen und wurde in einen Trainingsanzug gekleidet. Er bekam Kopfhörer aufgesetzt und daraus gelegentlich Musik zu hören. Seine Augen wurden zumindest mit einem Tuch um den Kopf verbunden. Einige Häftlinge erklärten, daß man ihnen Baumwolle über die Augen geklebt und diese anschließend verbunden und mit Schutzbrillen versehen habe. (…)

Dem Häftling wurden Hand- und Fußschellen angelegt. Dann transportierte man ihn im Auto zum Flughafen und setzte ihn in ein Flugzeug. Gewöhnlich wurde der Häftling in zurückgelehnter Haltung sitzend transportiert. Seine Hände waren vorne gefesselt. Die Reise dauerte zwischen einer Stunde und 24 oder sogar 30 Stunden. Der Häftling durfte nicht auf die Toilette gehen. Bei Bedarf mußte er in die Windel urinieren und defäkieren.“

Man muß sich anstrengen, um eine konkrete Vorstellung von dieser entrückten Welt zu erlangen: rundherum nur Schwärze und absolut nichts zu sehen. Stille – oder „ab und zu“ laute Musik – anstelle der Geräusche des Alltags. Handschellen, manchmal in Kombination mit Handschuhen, statt der Möglichkeit, die Hand auszustrecken, die Umgebung zu ertasten, zu fühlen. Man spürt Metall an Hand- und Fußgelenken, Baumwolle über den Augen, Stoff vor dem Gesicht, Kot und Urin auf der Haut. „In einigen Fällen wurden Häftlinge flach auf dem Bauch liegend am Boden des Flugzeugs und mit hinter dem Rücken gefesselten Händen transportiert“, was ihnen „Beschwerden und starke Schmerzen verursachte“, während man sie von einem unbekannten Ort zum anderen brachte.

Abu Zubaida, der einunddreißigjährige, im saudiarabischen Riad als Kind palästinensischer Eltern aus dem Gazastreifen geborene Zein al-Abidin Mohammad Hassan, erklärte, „daß bei einer Überstellung seine Augen sehr streng verbunden wurden, was zu Verwundungen der Nase und der Ohren führte. Er weiß nicht, wie lange diese Überstellung dauerte, aber er erinnert sich, daß ihm die Haftbehörden mitgeteilt hatten, seine Reise würde 24 bis 30 Stunden dauern.“

Es war also eine lange Reise. Vielleicht nach Guantánamo? Oder nach Marokko? Und danach anscheinend wieder zurück nach Thailand? Oder doch nach Afghanistan? Er selbst vermutet letzteres, aber ganz sicher ist er nicht.

(...)

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