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Cover Lettre International 60, Ann Mandelbaum
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LI 60, Frühjahr 2003

Radioaktives Feuer

Warum die Erfahrung von Tschernobyl unser Weltbild in Frage stellt

Paul Virilio: Aristoteles sagte, daß die Substanz absolut und notwendig, das Akzidens lediglich relativ und unwesentlich sei, weil es sich zufällig ereignet. Der Unfall, der sich in Tschernobyl ereignet hat, ist aber ein Unfall der Substanz, das heißt des Nuklearsystems. Darüber hinaus ist er meiner Meinung nach ein Unfall der Wissenschaft, ein GAU des Wissens. Und der GAU des Wissens bringt ganz andere Probleme mit sich als die Unfälle von Substanzen wie zum Beispiel die Entgleisung eines Zuges, ein Flugzeugabsturz oder die Kernschmelze in einem Atomreaktor. Es geht nämlich um einen Unfall, der die Philosophie mit einer ihrer ganz großen Fragen konfrontiert: Kann es einen Unfall des Bewußtseins geben? Sie sagen, die Opfer sind sich des Ereignisses, das nicht nur ihr eigenes Vorstellungsvermögen, sondern jede Philosophie weit überschreitet, nicht bewußt.

Ich glaube, daß es sich hierbei um eine Erfahrung handelt, die man zuvor ein einziges Mal gemacht hat: in Auschwitz. Mit Auschwitz haben wir erfahren müssen, was der Unfall des Bewußtseins ist. Und mittels der Nukleartechnik haben wir es hier mit demselben Phänomen zu tun. Mit Hiroshima und Tschernobyl verunglückte das Bewußtsein, und nicht nur die Wissenschaft. Rabelais sagte einst, eine Wissenschaft ohne Bewußtsein ist nichts als ein Ruin der Seele. Ich glaube, Tschernobyl veranschaulicht dies. Zudem ist es eine Lektion für unsere Epoche. Denn unsere Epoche bewegt sich sowohl in einigen Forschungsbereichen als auch bei einigen Maßnahmekatalogen am Rande des Abgrunds. Heute, am Ende des Jahres 2002.

Swetlana Alexijewitsch: Mit Tschernobyl kamen den Leuten starke Zweifel in bezug auf das Wesen des Menschen und die menschliche Kultur. Denn man hatte den Eindruck, daß sich unsere Seele ausschließlich durch die Kenntnis des Bösen bereicherte. Das Böse war unsere Wissensform. Es nahm solche Ausmaße an, daß wir gezwungen waren, über unsere eigenen Grenzen hinauszugehen, und dennoch waren wir nicht dazu in der Lage, es in seiner Gesamtheit zu erfassen. Hierbei handelte es sich um eine Form der Selbstzerstörung des Denkens, der Kultur. Es ging nicht einfach nur um den physischen Tod des Menschen. Am meisten erstaunte mich die Tatsache, daß es sich um die Selbstzerstörung des Denkens handelte. Während dieser Tage interessierte ich mich sehr für die irrationale Seite des Menschen.

Das Bewußtsein war auf dem Rückzug, die Kultur war auf dem Rückzug. Und das Unterbewußtsein begann zu arbeiten. Die Leute fürchteten sich vor Monstern, sie erzählten Geschichten über Kinder mit fünf Köpfen, über kopf- und flügellose Vögel. Auch hier versuchte der Mensch also, seine eigenen Grenzen zu überschreiten. Die interessanteste Beobachtung, die ich seinerzeit machte, war die folgende: Sie wissen bestimmt, daß Weißrußland am meisten unter der Katastrophe von Tschernobyl zu leiden hatte. Bis heute ist Weißrußland ein fast archaisches Agrarland, wo die Bauern noch eins sind mit der Natur und einfache Gerätschaften benutzen: Pflug, Axt, Spaten. Und diese eng mit der Natur verbundenen Menschen haben Tschernobyl am besten überstanden.

Als ich die Dörfer in der kontaminierten Zone besuchte und mit alten Männern und Frauen sprach, stellte sich heraus, daß ihr Weltbild intakt geblieben war und der Katastrophe widerstanden hatte. Wenn ich mich dagegen mit unseren großen Physikern, Generälen, Politikern oder Funktionären unterhielt, zeigten sie sich entweder vollkommen machtlos oder sie klammerten sich an ihr überkommenes Wissen und die überkommenen Handlungsmuster. Der Leiter eines wichtigen Krisenstabs forderte: Ich will diesen verdammten Reaktor sehen. Man erklärte ihm, daß es unmöglich sei, sich dem Reaktor zu nähern, weil die radioaktive Strahlung zu hoch sei, doch er wollte es nicht glauben, denn die Gefahr war weder sichtbar noch fühlbar.

Für mich wird es immer ein Rätsel bleiben, warum die Welt der einfachen Leute intakt blieb, nicht in sich zusammenfiel. Vielleicht könnten Sie mir sagen, was Sie darüber denken? War es ihre Demut, die ihnen half, oder ihre Resignation angesichts der Vorstellung, zusammen mit der Natur zu verschwinden, mit der sie sich immer eins gefühlt hatten? Ich denke auch an die Tiere, welche die Katastrophe lange vor den Menschen gespürt hatten. Die ganze Zeit über stellte ich mir die Frage: Von wem müssen wir lernen? Die Wissenschaft hilft uns jedenfalls nicht weiter, und die Kultur ist machtlos. Müssen wir vielleicht von den Tieren lernen? Von den einfachen Leuten, die naturnah leben? Das sind für mich die großen Fragen.

(...)

Das Gespräch wurde von Andrei Ujica für seinen Film "Unknown Quantity" am 28.09.2002 im Studio der HfG Karlsruhe aufgezeichnet und erstmals im Rahmen der von Paul Virilio konzipierten Ausstellung "Ce qui arrive" in der Pariser Fondation Cartier gezeigt.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.