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Inhaltsverzeichnis

LI 138, Herbst 2022

Der Himmel der Toten

Theater zwischen Ankara, Ost-Berlin, Paris, Bochum und Frankfurt

(…)

Akteurin im Bordell

Frank  M.  Raddatz: Damals herrschte in der jungen Generation der Glaube, daß Büchner, Brecht oder Pasolini die Basis für eine Kultur der Zukunft legen könnten.

Emine Sevgi Özdamar: Oder auch Rimbaud, Edith Piaf und Godard. Die Toten hatten einen zweiten Himmel über Europa geschaffen, und diese Künstler bauten ihn weiter aus.

Frank  M.  Raddatz: Ein Himmel der Gegenkultur.

Emine Sevgi Özdamar: Unsere Generation war total politisiert. Selbst unsere Eltern, die immer Sozialdemokraten gewählt hatten, wählten unter dem Einfluß von meinen Brüdern und mir plötzlich die Arbeiterpartei. Meine Mutter las neben türkischen Klassikern auch Tschingis Aitmatow und Fjodor Dostojewski. Einmal fragte mich mein Vater, ob sein neuer Schnurrbart dem von Che Guevara ähnlich sähe.
     Auf den Spielplänen standen zahlreiche politische Autoren. In dem Peter-Weiss-Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats habe ich Charlotte Corday gespielt. Es wurde viel Brecht inszeniert, und neue Stücke wurden im Geist von Brecht konzipiert. Ein Drama fragte, wie sich ein Mädchen, das die Tochter einer Puffmutter ist, vor dem Kapitalismus retten kann. Obwohl sie sich dagegen wehrt, wird sie am Ende selbst zur Puffmutter, weil der Kapitalismus zu stark im Handeln und Denken verankert ist. So etwas hat uns damals beschäftigt. Um eine Nutte zu spielen, bin ich in Ankara einmal zu einem Puff gegangen und habe gefragt, ob ich mit den Frauen reden darf. Mir wurde mitgeteilt, daß mir die Sittenpolizei eine Erlaubnis erteilen müsse und sie mir dort eine Begleitung mitgeben würden. Ich fragte ganz naiv: „Wieso denn?“ Und einer der Männer im Bordell antwortete: „Glaubst du, meine Tochter, daß unsere Mädchen, wenn sie am Freitag zum Arzt gehen, um sich untersuchen zu lassen, anders aussehen als du?“
     Zwei Beamte von der Sittenpolizei begleiteten mich in den Hof des Bordells. Dort tummelten sich über hundert Männer, die sich die Frauen anschauten und mit ihnen redeten. Manche waren ganz romantisch wie Prinzessinnen verkleidet. Sie haben alle zwei Betten gehabt. In dem einen schliefen sie allein, da durfte kein Mann rein, und daneben stand ein Bett, in dem sie als Hure arbeiteten. Ich sprach mit einer Bäuerin, die ihr Mann dorthin verkauft hatte. Eine andere, städtische, blondgefärbte, schöne Frau erklärte mir, wie alles vor sich geht, wann der Mann bezahlen muß usw. Sie trugen alle weiße Wollstrümpfe. Vielleicht weil ihnen kalt war. Die habe ich später in meiner Rolle auch getragen. Männer im Saal haben gelacht, als ich damit auftrat. Die wußten Bescheid. Es war eine bewegte Zeit.

Frank M. Raddatz: Der Militärputsch von 1971 hat den Traum der Utopie dann platzen lassen.

Emine Sevgi Özdamar: Damit ging alles kaputt. Das Theater wurde geschlossen. Seine drei Direktoren kamen ins Gefängnis. Unsere Schauspielschule wurde drangsaliert und verlor ihre Mäzene, so daß sie nicht mehr weitermachen konnte. Ich lebte damals mit meinem Freund in einer Film-Kommune. Als Schüler von Pasolini und Monica Vitti hatte er in Italien Film studiert und zurück in der Türkei eine Bewegung namens „Jung-Cinema“ gegründet. In dieser Kommune durften wir uns nichts kaufen: nichts zu essen, keine Schuhe oder Klamotten. Ich besaß zwei Blusen, zwei Hosen, die ich noch aus Berlin mitgebracht hatte, und zwei Jacken, die ich immer wieder verlieh. Ich wollte nichts besitzen, wollte mir auch keine Auslagen in den Geschäften anschauen. Ich erinnere mich an einen italienischen Film, in dem eine Frau Schuldgefühle bekommt, weil sie in eine Boutique geht. Auch ich bekam eine Kaufscham. Wir mußten, wenn wir Geld verdient hatten, alles abgeben, damit Sechzehn-Millimeter-Filme gemacht werden konnten, zum Beispiel Interviews mit Arbeitern.
     Ich fing an, in der Filmindustrie als Kamera-Assistentin zu arbeiten, in der Hoffnung, daß wir eines Tages eigene professionelle Filme mit mir als Kamerafrau drehen würden. Ich war die erste Kamera-Assistentin der Türkei überhaupt. Einmal kam der Chef der Kamera-Gewerkschaftler und sagte: „Hol mal den Film raus und zeig mir, was ihr heute gedreht habt.“ Ich antwortete: „Bist du verrückt, der Film geht kaputt, wenn er mit Licht in Berührung kommt!“ Weil ich mich geweigert habe, seiner Anweisung zu folgen, wurde ich akzeptiert.
     Durch den zweiten Militärputsch 1971, der ein faschistischer Putsch war, brach die Kommune auseinander. Manche mußten zum Militärdienst, weil die Polizei bei ihnen zu Hause marxistische Bücher gefunden hatte. Einige Jungs, die „Che-Guevaras“, gingen in die Berge. Manche wurden geschnappt, nach anderen wurde gesucht. Die Polizei kam in unsere Kommune, entdeckte ein paar marxistische Bücher und Briefe von meinem Freund und nahm uns mit aufs Revier. Dort zeigten sie mir Photos von Gesuchten und ich wurde gefragt: „Kennst du den?“ Ich sagte: „Ja, aus den Zeitungen!“ Der Kommissar schrie: „Sie kennt den!“ Wir wurden 15 Tage dabehalten. Ich mußte im Revier immer auf einem Stuhl am Schreibtisch sitzen, weil die Polizisten, die oft Verkehrspolizisten waren, wollten, daß ich auf deutsch Postkarten schreibe an deutsche Frauen, die sie mal kennengelernt hatten. Neben den Polizisten war dort auch eine Arbeiterin, ein Verleger und sogar eine indische Schlangentänzerin anwesend. Die Polizei glaubte, sie hätte sich verkleidet und sei eine Terroristin. Eines Tages kam der Polizeichef herein und schrie: „Eine Schlangentänzerin, eine Arbeiterin, eine Schauspielerin – Nutten. Allah soll euch verfluchen!“ Dann spuckte er aus und verschwand, aber wir wurden freigelassen. In dieser Zeit ging meine Beziehung kaputt.

(…)

Frank  M.  Raddatz: Tanz und poetische Metaphern sind vieldeutig, während die Macht die Worte als Erkennungsmünzen betrachtet.

Emine Sevgi Özdamar: Mich hatten die Wörter der Dichtung immer bereichert. Jetzt wurde die poetische Sprache auch von dem faschistischen Machtapparat liquidiert. Sie wollten eine eindeutige Sprache. Verantwortliche, die zuvor im Fernsehen aufregende Programme und Filme von Fellini oder Pasolini gezeigt hatten, wurden aus dem Verkehr gezogen. Wir mußten unsere Bücher verstecken und Briefe wegwerfen, damit die Polizei uns nichts nachweisen konnte. Dieser Militärputsch war auch ein Sprachputsch, und ich dachte, ich müsse die Poesie unter der Zunge verstecken, zurücknehmen und unter dem Staub des Vergessens begraben. Ich hatte das Gefühl, die Sprache ist krank und sie muß ins Sanatorium. Und dieses Sanatorium hieß Brecht. Ich wollte die kranken türkischen Wörter zu einem sprachmächtigen Autor bringen. In der DDR oder in West-Berlin habe ich mich mit keinem Türken mehr getroffen, um nicht Türkisch zu sprechen. Nach zwei Jahren hatte ich das Gefühl, das deutsche Theater hat meine türkischen Wörter wieder geheilt, weil ich sie nie wieder gesprochen habe oder mit etwas anderem durchmischt habe.
     Im Osten wurde den Worten großes Gewicht beigemessen. Sie wurden sehr ernst genommen. Dagegen wimmelte es im Westen von Wörtern. Auch an den Mauern. Hinter den Toilettentüren. Es gab Unmengen von Zeitschriften und Zeitungen. Überall gab es hier Wörter, Wörter, Wörter. Das Wort besaß in der DDR eine größere Wirkung. Wenn die Toten auf die Bühne kamen und Horatio sagte: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark!“, bezogen das die DDR-Zuschauer auf die Gegenwart. Sie gingen sehr gerne ins Theater. Das konnte ich fast jeden Abend beobachten, denn ich schaute mir fast immer etwas an. Den Guten Menschen von Sezuan etwa zwanzigmal. An der Schaubühne bei Peter
Stein herrschte eine andere Atmosphäre. Viele Leute waren schwarz gekleidet. Es war viel steifer.

(…)

Frank  M.  Raddatz: Wenn Sie zurückschauen, was fällt Ihnen leichter, das Leben im Theater oder das Schreiben von Literatur.

Emine Sevgi Özdamar: Es war für mich leichter am Theater. Ich habe seit meinem zwölften Lebensjahr Theaterluft geatmet und mit dessen Menschen gelebt. Das Theater ist eine Institution, die einem hilft: Du gehst morgens beim Theaterpförtner vorbei, er scherzt mit dir – „Wenn du mir nicht ein Bier spendierst, laß ich dich nicht rein!“ – schon wird gelacht. Die Korridore, die Theaterkantine, die Bühne, die Theatergarderoben, alles sind Spielplätze. Der Regisseur holt in den Proben aus dir etwas raus, die Kostümbildnerin sucht mit dir ein Kostüm, das deine Figur unterstützen kann, da ist ein Dramaturg, da ist der Bühnenbildner, da ist das Bühnenbild, die dich unterstützen. Du fängst an, auf der Bühne deine Ecken zu finden, deine Mitspieler fordern dich in ihren Rollen heraus oder du die anderen in deiner Rolle. So geht es bis zur Premiere. Deine Kollegen küssen deine Wangen morgens und abends. Beim Romanschreiben fehlen die Küsse.
     Als ich meinen ersten Roman begann, hingen überall an den Wänden meines Zimmers mit Stecknadeln befestigte Photos und Bilder, die mir etwas sagten, die in meinem Herzen spazieren konnten und mir Kraft gaben: Buñuel, Signorelli, alle Selbstporträts von Van Gogh, Rembrandt, meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter mit einem Kind auf einer Wippe sitzend, Heinrich Heine, Kavafis, Albrecht Dürer als Christus, schöne Männerbildnisse aus der Renaissance, Brecht, Benno Besson, Zeitungsausschnitte mit Bildern von türkischen Vätern, deren junge Söhne schuldlos hingerichtet wurden, Silvana Mangano, Pasolini, Fritz Lang, Filmplakate von japanischen Filmen, Ozu, Mizoguchi, Mikio Naruse, erotische Bilder aus der ottomanischen Zeit, eine von Picasso gezeichnete Frau, die mich an meine schöne Mutter erinnerte, Istanbulphotos des türkisch armenischen Künstlers Ara Güler mit Schiffen, Bauern, Gassen. Ich war sehr einsam beim Schreiben, lebte mit den Menschen vom Hof, die ich im Spiegel über dem Küchentisch sah, schrieb weiter. Draußen rasten die Busse, Autos in einem verrückt gewordenen Rhythmus eines Industrielandes, den ich an meinem Schreibtisch verlangsamte. Ich suchte in meinem Körper, als ob mein Körper eine antike Stadt wäre, den langsamen Rhythmus meiner Kindheit und die Gefühle, die ich für diese wunderbar poetischen Menschen von damals hatte. Ich rief durch das Schreiben die Menschen, die nicht mehr lebten, meine Toten, ins Gedächtnis zurück, und sie fingen an, in der deutschen Sprache zu leben. Unbewußt schützte ich den langsamen Kindheitsrhythmus und die Körper meiner Toten, indem ich die Wohnung tagelang nicht verließ.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.