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Inhaltsverzeichnis

LI 132, Frühjahr 2021

Operation Europa / Zwei Teile

Die Entwicklung der politischen Ordnung. Geheimnisse und ein Putsch Die Dynamik der Integration. Das komplexe Gefüge der Institutionen

(…)

Da das Europäische Parlament den gewöhnlichen Charakter einer legislativen Instanz nicht besitzt, ist es realistisch, wenn van Middelaar dieses Parlament im wesentlichen als Hofmusiker für die wahren Machthaber der Union bezeichnet. Dies bedeutet jedoch natürlich nicht, daß man die politischen Karrieren und Verbindungen der Spieler, die an den Ereignissen beteiligt sind, um welche sich diese Narration bewegt, als unerheblich ignorieren dürfte. Daß van Middelaar dies tut, hat eine glättende, apologetische Wirkung. Der biographische Hintergrund der Richter in Luxemburg, deren Entscheidungen europäische Geschichte gemacht haben, bleibt völlig leer. Was die Staatsmänner betrifft – welcher unschuldige Leser könnte erraten, daß der Held des Dramas von Mailand, das van Middelaar so genüßlich breit erzählt, der Führer der Sozialistischen Partei Italiens, Bettino Craxi, die allerkorrupteste Figur der italienischen Politik ihrer Zeit war, eine den Mitbürgern derart verhaßte Gestalt, daß sie in der Öffentlichkeit voller Verachtung mit Münzen beworfen wurde, ein Mann, der vor der Verhaftung nach Tunesien fliehen mußte, wo Craxis Tage im goldenen Käfig eines Exils endeten, in dem er die Früchte seiner Erpressung öffentlicher Mittel und seines Diebstahls von Steuergeldern genießen konnte? Van Middelaar rühmt Craxis „brillanten Bluff“ im Europäischen Rat und verliert ansonsten kein Wort über ihn. In der Welt der Fürsten mag ein Hofmusiker eine niedrige Stellung einnehmen, doch die Rolle eines Höflings kann den, der sie spielt, noch stärker erniedrigen.

Wo die Politik gelegentlich in der Erzählung auftaucht, tut sie dies in Form von Diplomatie, der Beziehung zwischen Staaten – im Gegensatz zu Wahlbündnissen oder gesellschaftlichen Kräften. Hier nimmt Vom Kontinent zur Union die Transaktionen zwischen Frankreich und Deutschland als Leitfaden seiner Erzählung; van Middelaar sieht in den beiden Staaten angemessenerweise die für den Weg der Integration entscheidenden Mächte und betrachtet den von Frankreich ins Leben gerufenen Rat als die zentrale Instanz in der komplexen Maschinerie der Union. Obwohl er hier einem vertrauten Bild nichts wesentlich Neues hinzufügt, schildert er die französisch-deutschen Beziehungen gut, ohne jene Momente zu vernachlässigen, da weniger wichtige Akteure – insbesondere die Benelux-Staaten – die Ereignisse prägten. Was die Dominanz von Paris und Bonn/Berlin für das Wesen der Union bedeutet hat – nicht episodisch, sondern strukturell –, läßt er beiseite.

 

Die Regenten des Rates

Das große Verdienst seiner Darstellung – ihr entscheidender Wert – liegt darin, daß er mit größerer Deutlichkeit und Emphase als irgendein Autor zuvor dem Europäischen Rat den gebührenden Platz zuweist, nicht nur formell an der Spitze der Union, sondern als deren überwältigend einflußreiche Instanz; der vorletzte Teil ihrer Architektur, der entstanden war, aber der wichtigste von allen. Hier kann er legitimerweise den Anspruch erheben, sich in eine Tradition der raison d’état einzureihen, die – nach Ankersmit – von Machiavelli bis Meinecke reicht. Van Middelaar läßt wenig Zweifel an seiner Geringschätzung für die Kommission (eine nützliche, aber banale Fabrikationsstätte für Regulierungen) und für das Parlament (eine vom Wind der Worte durchtoste Höhle).

Der Rat dagegen ist der Ort autoritativer Entscheidungen. Kommission und Parlament neigen zu den utopischen Versuchungen eines europäischen Föderalismus, für welche der Autor seine Verachtung kaum verbirgt. Der Rat ist im eigentlichen Sinn das Vehikel der Bewegung, die Europa ergriffen hat und die zu einer immer größeren Einheit führen soll, als ein Klub von Staaten, den ein gemeinsames Projekt verbindet, welches ihre Identitäten als Nationen nicht auslöscht, sie aber in einem geteilten Geschick vereint, einer Schicksalsgemeinschaft.

Wie kommt denn der Rat zu seinen Entschlüssen? Hinter verschlossenen Türen, in Verhandlungen, die nicht protokolliert und die unter dem Siegel des Konsensus verkündet werden. Van Middelaar gibt eine deutliche, wenn auch taktvolle Schilderung der psychologischen und politischen Mechanismen, die diesen Konsens erzeugen. Daß er in weiter Entfernung von irgend-einer öffentlichen Einflußnahme auf die so getroffenen Entscheidungen herbeigeführt wird, in einem Konklave, das keinen Blick von außen duldet, ist ihm kein Grund zu Tadel oder Kritik. Was seine Bewunderung für den Rat kennzeichnet, gilt einer Form der von Daalder skizzierten „Regentenmentalität“, von der holländischen auf die europäische Ebene verschoben: der ruhigen Regelung aller Angelegenheiten unter Eliten in camera, über die Köpfe einer passiven Bevölkerung hinweg.

Hier weicht van Middelaar in einem wichtigen Punkt von Ankersmit ab, für den die Zukunft der Union zwar ebenfalls in der nüchternen Staatskunst des Rats lag und nicht in den müßigen Phantasien von Kommission oder Parlament, der jedoch auf dem Unterschied zwischen dem von ihm vertretenen Prinzip des Kompromisses und dem vagen Nebel des Konsensus à la Rawls bestand. Bei einem Kompromiß kommen die beteiligten Parteien zu einer Übereinkunft, ohne ihre Differenzen zu verbergen oder zu unterdrücken. Bei einem Konsensus andererseits werden die Differenzen ausgelöscht. Die Autorität des Rates ist monochrom. Darin entspricht ihm als Pendant der Europäische Gerichtshof, der ebenfalls geheim berät und die Veröffentlichung abweichender Meinungen untersagt, so daß die Urteile wie einstimmige Edikte wirken.

 

Arcana imperii

Dies also sind die beiden Schauplätze von van Middelaars Darstellung und Lobpreis des letzten Geheimnisses beim Aufbau von Europa, des Schlüssels zu dessen Erfolg. Dieser Schlüssel liegt in dem Ausdruck, der mit zwanghafter Insistenz an den Wendepunkten der Erzählung immer wiederkehrt: dem „Coup“. Die Gerichtsurteile von 1962 und 1963, welche ohne irgendeine Ermächtigung durch die Römischen Verträge den Vorrang der Gemeinschaftsgesetze vor den nationalen fixierten, waren jeweils brillante Coups; die Einrichtung des Europäischen Rats war ein Coup; die handstreichartige Schaffung einer Möglichkeit zur Änderung der Römischen Verträge während des Treffens in Mailand war ein großartiger Coup; die Gründung der Union selbst war einer.

In jedem Falle ist die Definition eines Coups die, daß man plötzlich und verstohlen handelt, die Betroffenen völlig überrascht und sie vor ein fait accompli stellt, das nicht rückgängig zu machen ist. Es ist dies kein Begriff, der irgendeine Rolle in der demokratischen Politik spielte (ganz im Gegenteil), und er findet deshalb keine Erwähnung und schon gar kein Lob im urbanen Vokabular liberaler Politik oder Jurisprudenz.

(…)

Die Geschichte der Europäische Kommission läßt sich grob in drei wichtige Phasen einteilen, die dem Amtieren von drei Politikern entsprechen, welche die Präsidentschaft jeweils während zweier Amtszeiten ein ganzes Jahrzehnt innehatten: Walter Hallstein (1958–1967), Jacques Delors (1985–1995) und José Manuel Barroso 
(2004–2014). Hallstein war ein deutscher Jurist und Diplomat – ein Christdemokrat, der am bekanntesten ist für die von ihm während des Kalten Krieges formulierte, nach ihm benannte Doktrin, die besagte, daß die Anerkennung irgendeines Staates durch die Bundesrepublik davon abhängen mußte, daß dieser sich seinerseits weigerte, die DDR anzuerkennen. Er war ein überzeugter Föderalist, der in der Kommission eine Art Proto-Regierung der Gemeinschaft sah, die nationale Souveränität als eine „Doktrin von gestern“ bezeichnete und sich selbst den Status eines „Premierministers von Europa“ beilegte. De Gaulle beendete diese Prätentionen im Jahres 1965 abrupt, und Hallstein verließ Brüssel als politisch geschwächte und verspottete Figur. Doch auf seinem Höhepunkt präsidierte er einer Kommission, die mit größter Energie Mittel und Wege suchte und fand, um die Römischen Verträge im höheren Interesse der europäischen Einheit zu umgehen.

Wie der französische Wissenschaftler Antoine Vauchez gezeigt hat, wurde Brüssel rasch ein Magnet für Justitiare und Investoren aus den USA, die nach Marktgelegenheiten Ausschau hielten und die Erwartungen und Praktiken einer mächtigen Föderation mitbrachten. Sie traten bald in enge Beziehungen zu einer bedeutenden Zahl ehrgeiziger belgischer Wirtschaftsjuristen, und dieses gemeinsame Milieu bot elegante Möglichkeiten der Vermittlung zwischen den anreisenden Vertretern multinationaler Konzerne und der Kommission sowie eine günstige Bühne für den Ideenaustausch mit Schlüsselabteilungen wie der des Kommissars für Wettbewerb oder dem Juristischen Dienst. Die von den Römischen Verträgen geschaffene EWG war durchaus nicht als eine extrem marktfreundliche Zone konzipiert worden – ihre stark subventionierte und regulierte Landwirtschaftspolitik war liberalen Ökonomen Anathema und ließ Hayeks geistesverwandten Kollegen Wilhelm Röpke (mit Bezug auf den belgischen Gründer) die EWG als ein lächerliches „Spaakistan“ beschimpfen. Von Anfang an war jedoch die Wettbewerbssektion der Kommission eine Festung, die von deutschen Ordoliberalen gehalten wurde, deren Hingabe an die Marktprinzipien und deren Entschlossenheit, diese nicht durch ungehörige Eingriffe durch irgendeinen Staat stören zu lassen, sie zu natürlichen Anhängern des Föderalismus machte, wie es vor dem Krieg Hayek gewesen war. In dieser Sache trug der Juristische Dienst die Fahne voran: Er lieferte dem Gerichtshof die überwältigende Mehrzahl der Fälle, auf welchen seine Urteile ein immer weiträumigeres Gebäude europäischen Rechts errichten konnten, das die Rechte nationaler Parlamente übertrumpfte. Zwischen 1954 und 1978 brachten die zehn häufigsten Kläger vor dem Gerichtshof insgesamt 1 381 Fälle vor; von diesen kamen 1 082 von der Kommission oder ihren Hilfsorganisationen – fast achtzig Prozent. Der Zirkel der Zusammenarbeit war eng geknüpft. 1964 konnte Hallstein triumphierend verkünden, daß Europa „den Beginn einer wirklichen und vollen ‘politischen Union’“ erreicht habe.

Ein Jahr später war er entmachtet, und es brauchte weitere zwanzig Jahre, bis die Kommission ihre alte Dynamik wiederfand. Dies geschah unter anderen Vorzeichen. Jacques Delors, der in seiner Jugend in Frankreich dem katholischen Gewerkschaftsbund angehört hatte, ging schließlich in die Sozialistische Partei und forderte dort ein „soziales Europa“. Doch wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Substantiv und dem Adjektiv kam, kam das Substantiv zuerst. Als Finanzminister unter Mitterrand war es Delors, der dafür sorgte, daß das sozialistische Programm, mit dem Mitterrand gewählt worden war und das er zuerst auch umzusetzen begonnen hatte, 1983 in der berühmten Wende zur Sparsamkeit aufgegeben wurde, um den Franc im Europäischen Währungssystem zu halten. An der Spitze der Kommission ließ Delors es nicht fehlen an zahlreichen Erklärungen zur Notwendigkeit sozialer Solidarität und rief am Ende Kohäsionsfonds für die weniger prosperierenden Regionen der Gemeinschaft ins Leben. Seine hauptsächlichen Leistungen jedoch waren einerseits die Einheitliche Europäische Akte (formuliert unter seiner Ägide von einem Abgesandten Margaret Thatchers), unter der in der ganzen Gemeinschaft die Märkte vereinheitlicht und dereguliert wurden, und andererseits die Durchsetzung der Währungsunion, die das Hauptstück des Maastrichter Vertrags wurde. Für ihn waren dies notwendige Voraussetzungen für eine europaweite soziale Solidarität. Sie waren nicht nur in sich ökonomisch effizient und sorgten für Wachstum, das allen zugute kommen würde; ohne diese Voraussetzungen würden sich die Regierungen auch nicht dazu überreden lassen, den Reichtum zwischen Klassen und Regionen umzuverteilen, was entscheidend war, wenn Europa die volle Solidarität seiner Bürger gewinnen wollte. Als eine charismatischere und gebieterischere Figur als Hallstein, ein Politiker, der mit allen nationalen Führungspersonen seiner Gegenwart gleichauf verkehrte, setzte Delors die gemeinsame Währung durch, konnte aber die sozialen Ziele nicht erreichen, die er glaubte, damit erkauft zu haben. Alle Regierungen außer Großbritannien und 
Dänemark schlossen sich dem Euro an; nur wenige jedoch wollten viel von den sozialen Plänen wissen. Delors bekam in Maastricht seinen Fonds (für benachteiligte Regionen, von den Klassen war nicht die Rede), doch dies waren die Krümel der Solidarität, es war nicht der Brotlaib – verglichen mit der Wirkung der Einheitswährung im Folgenden waren es kaum mehr als die Almosen einer zweckbedingten Wohltätigkeit.

Barroso, der vier Jahre vor der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 sein Amt antrat, war der zweite amtierende Premierminister eines Mitgliedsstaates, der Präsident der Kommission wurde. Er war ein Politiker der portugiesischen Rechten, dessen hauptsächlicher Anspruch auf Berühmtheit bis dato darin lag, daß er Gastgeber bei dem Azorengipfel mit Bush, Blair und Aznar gewesen war, wo der Irakkrieg losgetreten wurde; seine Ernennung in Brüssel ein Jahr später bewies, wie hohl die nominelle Opposition Frankreichs und Deutschlands gegen die Operation „Freiheit für Irak“ war. Barroso war ein Lakai der Austeritätspolitik in seinem eigenen Lande, und seine Amtszeit in Brüssel markierte den Höhepunkt der neoliberalen Welle, welche auf die Einführung der gemeinsamen Währung folgte, mit der Verkündung von Bolkesteins Dienstleistungsdirektive 2004 und dem Vertrag von Lissabon 2010. Doch obwohl er persönlich mit ebensolchem Ehrgeiz seine Rolle spielte wie Hallstein 
oder Delors, waren die Ideen, die er verkörperte, im neuen Jahrhundert bereits konventionell, während die Macht des Europäischen Rats seit Maastricht wesentlich gewachsen war, und zwar auf Kosten der Kommission. In Barrosos zweiter Amtszeit hatte der Rat mit Van Rompuy seinen eigenen Präsidenten, der ein Rivale im Rampenlicht war und mit dem Barroso nie besonders gute Beziehungen unterhielt. Seine Amtszeit war weniger bedeutsam als die seiner Vorgänger.

Heute amtieren 27 Kommissare, einer pro Mitgliedsland, von denen jeder einen naturgemäß stark ungleichgewichtigen Zuständigkeitsbereich hat (der Wettbewerb war schon seit langem der wichtigste), wenn auch alle formell gleichgestellt sind unter der Präsidentschaft, die augenblicklich die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen innehat. Der ehemalige Generaldirektor des Juristischen Dienstes, Jean-Claude Piris (ein alter Brüsseler Fuchs, der 22 Jahre lang seinen Posten innehatte), hat 2012 darauf hingewiesen, eine formelle Egalität würde bedeuten, daß die 14 Kommissare aus den kleinsten Ländern der EU, die lediglich 12,65 Prozent von deren Bevölkerung repräsentieren, mühelos die sechs Kommissare aus den größten Ländern mit siebzig Prozent der Bevölkerung überstimmen könnten; deshalb fallen die Entscheidungen stets per „Konsensus“, das heißt: hinter einer Fassade der Einmütigkeit dem Einfluß oder Veto der sechs hauptsächlichen Mitglieder entsprechend. Ähnlich berät sich der Präsident der Kommission, der für die Liaison mit den Regierungsoberhäuptern der Mitgliedsstaaten verantwortlich ist, normalerweise nur mit denen aus der Sechsergruppe oder vielleicht auch nur mit Berlin und Paris: Alles andere wäre „zu zeitraubend“. So zusammengesetzt, hat die Kommission offiziell die ausschließliche Macht, Gesetzgebungsmaßnahmen für die Union vorzuschlagen, doch die Wirklichkeit sieht hier anders aus: Mehr als zwei Drittel ihrer Vorschläge werden nun gemeinsam mit Repräsentanten der Mitgliedsstaaten im dichten Brüsseler Unterholz ausgeheckt, wo COREPER (eine Organisation, welche die permanenten Gesandten bei der EU zusammenbringt) eine dominante Stellung hat, um dann an den relevanten Ministerrat weitergereicht und dort abgestempelt zu werden.

Unter den Kommissaren, die für eine fünfjährige Amtszeit ernannt werden, agiert die permanente Bürokratie der EU, etwa 33.000 Personen stark – die „Eurokraten“, mit der Wortprägung des Economist aus dem Jahre 1961, welche dann ein Buch von Altiero Spinelli 1966 ohne pejorative Absicht populär gemacht hat. In den höheren Rängen, wo die Leiter und Assistenten der 32 Generaldirektorate zu finden sind, war die Rekrutierung bis in die Mitte der achtziger Jahre stark zu Beamten mit juristischer Ausbildung gewichtet; weiter unten im breiten Block der Administration wurde eine allgemein humanistische Orientierung gerne gesehen. Ein Magister in Europastudien war ein Vorteil, am besten vom Europakolleg in Brügge; später änderte sich das Muster, nicht zuletzt durch die Erweiterung der Union nach Osten. Unter Romano Prodi (Präsident von 1999 bis 2004) vertraute man Neil Kinnock die Aufgabe an, das System der Bezahlung und der Rekrutierung zu modernisieren, was das charakteristische Aroma von New Labour nach Brüssel brachte, mit vorhersehbaren Folgen. 2014 waren bereits zwei Drittel der Generaldirektoren von ihrer Ausbildung her Wirtschaftler, die entsprechend hohe Gehälter bezogen, damit man die Konkurrenz des Privatsektors nicht fürchten mußte; auf den unteren Leitersprossen traten im Namen eines vorgeblichen Demokratisierungsprozesses die Kenntnis von Fremdsprachen und die allgemeine kulturelle Kompetenz zurück zugunsten der Betriebswirtschaft.

Beobachtern der Entwicklung der EU seit Maastricht mögen solche Änderungen logisch genug erscheinen (Neoliberale wurden neoliberalisiert), doch viele der Betroffenen wußten die Veränderungen nicht zu schätzen, deren angelsächsischer Ursprung im Zeitalter nach dem Brexit noch Salz in die Wunden reibt. „Nachdem sie Europa jahrelang von innen beschädigt haben, beschädigen sie es jetzt von außen, indem sie seine politische Legitimität zerstören“, wird einer von ihnen von Didier Georgakakis zitiert. Ein anderer, weniger zornig: „Es ist verrückt, wenn man’s genau bedenkt. Sie treten aus, und vorher haben sie uns noch ihr administratives Modell aufgestülpt.“ Noch einer: „Das neue Modell ist das von Procter & Gamble.“

(…)

Von einem ganz anderen politischen Kaliber ist die Europäische Zentralbank, eingerichtet, um die Einheitswährung zu verwalten, die es seit 1999 gibt. Heute ist sie eine der mächtigsten Institutionen der EU; manche würden sagen: die mächtigste. Sie hat ihren Sitz in Frankfurt, und der Aufsichtsrat besteht aus den Direktoren der Zentralbanken der Eurozonenländer und den sechs Mitgliedern der eigentlichen Bankdirektion; er tritt alle 14 Tage zusammen. Die Beratungen sind, anders als bei den amerikanischen und britischen Schwesterinstituten, aber in Analogie zum Europäischen Gerichtshof, geheim. Gelegentlich mag im Gegensatz zum Gericht ein Mitglied zurücktreten, aber die Beschlüsse sind formell einstimmig. Kein abweichendes Votum wird je veröffentlicht. Der Vertrag von Maastricht hat der Bank absolute Unabhängigkeit verliehen, und sie operiert ohne irgendeines der Gegengewichte (Kongreß, Weißes Haus, Finanzministerium), welche die Fed in Amerika umgeben, die so in einem politischen Zusammenhang steht, wo sie der Öffentlichkeit verantwortlich ist. Im Gegensatz zu jeder anderen Zentralbank ist die Unabhängigkeit der EZB nicht lediglich nominell; ihre Regeln und Ziele sind nicht durch parlamentarische Entscheidungen veränderbar: Sie wäre allein einer Vertragsänderung unterworfen. Und verglichen mit der Zentralbank ist das Agieren der Kommission, des Parlaments, des Gerichtshofs und sogar des Rates langwierig und unbeholfen. Die Bank kann mit einer Schnelligkeit und Effektivität handeln wie keine andere EU-Institution.

Maastricht gab der Europäischen Zentralbank eine einzige Aufgabe. Während die Fed vom Kongreß die Anweisung hat, für maximale Beschäftigung und stabile Preise zu sorgen, bestand die einzige Verantwortlichkeit der EZB darin, die monetäre Stabilität in der entstehenden Eurozone zu garantieren. Von Anfang an (wie die Ökonomen wußten; nicht wenige wiesen auch darauf hin) unterschieden sich die Volkswirtschaften, welche den Euro übernehmen sollten, in Größe, Zusammensetzung und Entwicklungsniveau beträchtlich, so daß in keiner Weise die Kriterien für ein „optimales Währungsgebiet“ erfüllt waren, welche der Wirtschaftswissenschaftler Robert Mundell und andere formuliert hatten. Dies hielt das Delors-Komitee, welches das Projekt durchdrückte, nicht ab, da seine Ziele eher politischer als wirtschaftlicher Natur waren: Einmal ging es darum, das wiedervereinigte Deutschland in der Gemeinschaft zu binden, doch im Weiteren darum, eine Währung zu schaffen, welche die Staaten, die sie akzeptierten, so eng zusammenbrachte, daß sie gezwungen sein würden, auf die monetäre auch die politische Union folgen zu lassen. Als ausdrückliches Ziel ließ sich dies in Maastricht noch nicht formulieren, wo föderalistische Hoffnungen an traditionellen Feilschaktionen zwischen den Regierungen scheiterten. Trotzdem schuf der Vertrag eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, wobei die versammelten Politiker, die das Dokument unterzeichneten, sich charakteristischerweise wenig Gedanken darüber machten, was die Folgen sein mochten, wenn sie nicht länger im Amt waren. Die Tore einer politischen Union waren noch nicht durchschritten, doch waren sie auch nicht verriegelt worden.

Die Diskrepanz zwischen Mitteln und Zwecken machte sich bald bemerkbar. Wim Duisenberg, der grobgeschnitzte niederländische Banker, welcher der erste Präsident der EZB wurde, setzte seinen Stolz darein, ein rauhbeiniger Vorkämpfer finanzieller Orthodoxie nach bestem angelsächsischem Muster zu sein. Doch war er beglückt, als Griechenland, nachdem es seine Bilanzen entsprechend geschönt hatte, sich der Eurozone anschloß. Seine Gründe waren nicht ökonomisch, sondern politisch. Obwohl die Einheitswährung für diejenigen, die sie verwalteten, nicht einfach eine Abkürzung zum Föderalismus war, stellte sie doch – wie es Giandomenico Majone, ein Denker, der mit größerer Treue klassischen Prinzipien anhängt, formulierte – ein „Prestigeprojekt“ dar, welches den Status der EU weltweit heben sollte. Ein Jahrzehnt später sollte die Eurozone für diese Eitelkeit bezahlen müssen. Jean-Claude Trichet, der Franzose, der als nächster das Ruder in Frankfurt übernahm, war eine glattere Figur, doch ebenso blind. Seine Antwort auf die globale Finanzkrise war prozyklisch: Erhöhung der Zinsen, um die Regierungen zu zwingen, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren; Austerität als Heilmittel für den Bankenkrach. Sein Nachfolger Mario Draghi wurde allgemein dafür gefeiert, daß er das Umgekehrte tat und Geld in die Volkswirtschaften der Eurozone pumpte, indem er Staatsanleihen aufkaufte und für eine großzügige Dosis anderer Formen von Liquidität sorgte. Tatsächlich war die Schnittmenge zwischen der jeweiligen Politik von Trichet und Draghi größer als allgemein angenommen. Draghi, der in Italien für ein durchgreifendes Privatisierungsprogramm verantwortlich gewesen war, war offener neoliberal (und bezeichnete den europäischen Sozialvertrag im Wall Street Journal als obsolet). Doch im August schrieben beide gemeinsam einen geheimen Brief an Berlusconi, den amtierenden italienischen Premierminister, in dem sie forderten, dieser solle eine Notbremse aus den Zeiten des Kalten Krieges ziehen und die Renten und andere öffentliche Ausgaben senken – eine noch nie dagewesene Verletzung ihres Mandats durch die Bank. Drei Monate später war Berlusconi nicht mehr da. Trichet seinerseits hatte sich gegen Ende seiner Amtszeit dazu bekehrt, Strategien zu entwickeln, die es erlaubten, das im Maastrichter Vertrag ausgesprochene Verbot des Erwerbs von Staatschulden durch die Bank zu umgehen. Im Februar 2012 sagte die einstige Leiterin der Forschungsabteilung der EZB, Lucrezia Reichlin, in der Financial Times zum Lobe ihres Chefs: „Das ganze Konzept, die europäischen Regeln zu umgehen und eine Quantitative Lockerung [quantitative ease] zu praktizieren, ohne sie beim Namen zu nennen, war extrem schlau.“

Fünf Monate später verkündete Draghi vor einem Publikum in der Londoner City: „Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, was es braucht [whatever it takes], um den Euro zu erhalten.“ Nachdem er die Überlegenheit der Wirtschaftsleistung Europas im Vergleich mit den USA und Japan betont hatte (letzterer Staat wurde als weniger „gesellschaftlich kohärent“ bezeichnet als die Union), schloß er damit, daß er klarstellte, was in der Krise letztlich auf dem Spiel stand.

Niemand sollte das „Ausmaß von politischem Kapital unterschätzen, das in den Euro investiert wird“. Und um dieses abzusichern, brauchte es die ultima ratio regis der Stunde: „gezielte längerfristige Refinanzierungsoperationen“, „direkte monetäre Transaktionen“ und so weiter, sprich: kluge Methoden, um die europäischen Regeln zu umgehen, „innerhalb des Mandats“ der Bank natürlich – das heißt, in dreister Verletzung der Artikel 123 und 125 des Lissabonner Vertrags. Die Legalität dieser Schritte sollte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof bestritten werden. Doch ebenso, wie dieser keine Skrupel gehabt hatte, die Römischen Verträge so zu interpretieren, daß er sich selbst Befugnisse zuschreiben konnte, von denen keine Spur in dem von den Sechs unterzeichneten Dokument zu finden war, hatte er jetzt keine Schwierigkeiten, festzustellen, daß der Lissabonner Vertrag das Gegenteil von dem bedeutete, was er aussagte. Da es diesmal nicht lediglich darum ging, in einen Vertrag etwas hineinzulesen, was nicht drinstand, sondern darum, etwas zu eliminieren, was dort enthalten war, glichen die entsprechenden Anstrengungen des Gerichtshofs, mit Horsleys Worten, „einer Herkulesarbeit“.

Die Komödie, daß die Richter feierlich erklärten, Finanzhilfen im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus stellten einen Akt der Wirtschafts-, nicht der Geldpolitik dar und seien deshalb vollkommen in Ordnung, während offen monetäre Transaktionen ein Instrument der Geld- und nicht der Wirtschaftspolitik darstellten und deshalb ebenfalls vollkommen in Ordnung waren, verlangt nach der Feder eines Satirikers wie Swift. Was bedeutete die Klausel des Artikels 125, die solche geldpolitischen Rettungsaktionen verbot, tatsächlich? Daß solche Rettungsaktionen etwas Ausgezeichnetes waren, solange sie dem „höheren Zweck“ dienten, den Euro zu erhalten. Oder in van Middelaars Glossierung: Die Regeln zu brechen, hieß, dem Vertrag treu zu sein.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.