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Cover Lettre International 92, Barbara Breitenfellner
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Inhaltsverzeichnis

LI 92, Frühjahr 2011

Pharaonendämmerung

Irrungen der Unsterblichkeit – vom tragischen Heros zum Gotteskrieger

Frank Raddatz: Als der ägyptische Präsident Mubarak gestürzt wurde, apostrophierten ihn westliche Medien oft als „Pharao“ mit negativer Konnotation. Was unterscheidet das heutige Ägypten von anderen arabischen Despotien?

Jan Assmann: Die Bezeichnung „Pharao“ ist im heutigen Ägypten ein Schimpfwort. Dabei berufen sich die Muslime auf die vielen Stellen, in denen im Koran von Moses und dem Auszug aus Ägypten die Rede ist. Wie in der Bibel erscheint im Koran firaun oder Pharao als Inbegriff von Unterdrückung, Tyrannei und Hybris. In diesem Sinne empfinden die Ägypter Mubarak als „Pharao“, also nicht als Verkörperung einstiger Größe und ruhmvoller Vergangenheit, sondern als Folterknecht, der sein Volk versklavt, wie der Pharao, gegen den sich „Mussa“ oder Moses mit Allahs Hilfe durchgesetzt hat. In anderen arabischen Despotien ist das anders. Saddam Hussein, der schlimmer war als Mubarak, konnte als ein neuer Hammurabi [der große Gesetzgeber, der im 18. Jahrhundert v. u. Z. in Babylon regierte] posieren. Das wäre in Ägypten undenkbar.

Man nimmt also im heutigen Ägypten die Jahrtausende zurückliegende Geschichte aus jüdisch-israelitischer Sicht wahr?

Jedenfalls nicht als die eigene Vergangenheit, auf die man stolz ist und auf der man fußt; allenfalls als Vergangenheit, von der man sich abgekehrt hat. Die Kopten, die christliche Minderheit in Ägypten, fühlen sich noch am ehesten als die Erben der alten Ägypter, weil sie sich im Gegensatz zu den Muslimen, die sich als Araber, also Einwanderer empfinden, als Ureinwohner sehen.

Den Arabern wiederum gilt das alte Ägypten als das Sklavenhaus und der Pharao als der oberste Sklaventreiber. Die arabischen Einwanderer und die zum Islam bekehrten Ägypter sind mit den spektakulären Überresten der alten Kultur nicht gut umgegangen. Die Gräber wurden geplündert, die Mumien zu Staub zermahlen, der als mumia exportiert und als kostbares Heilmittel in Apotheken verkauft wurde; die Pyramiden und Tempel wurden als Steinbruch benutzt. Heute hat sich das geändert; die Antiken sind durch den Tourismus die wichtigste Einnahmequelle des Landes geworden. Doch als solche sind sie eher „Bodenschätze“ denn Symbole kultureller Identität. Das alte Ägypten ist eine europäische Erfindung, die der Westen dem islamischen Land als Fremdkörper implantiert hat. Die Zeugen der altägyptischen Hochkultur sind „Weltkulturerbe“, aber nicht Landeskulturerbe.

In den letzten Jahren scheint sich aber hier ein Wandel anzudeuten. Neuerdings trifft man immer mehr ägyptische Touristen und Schulklassen in den Tempeln und Museen. Offenbar wird jetzt auch alt-ägyptische Geschichte in den Schulen gelehrt, und es gibt populäre Darstellungen in arabischer Sprache. Dafür ist der dynamische gegenwärtige Chef des Antikendienstes verantwortlich, der ständig im Fernsehen zu sehen ist. Er publiziert ein Buch nach dem anderen, regiert ähnlich autokratisch wie sein ehemaliger Oberchef und will unbedingt eine berühmte Königin zurückhaben, die wohl einstweilen in Berlin besser aufgehoben ist.

Die alte ägyptische Kultur wurde vom Nil und seinen Überschwemmungen geprägt. Dagegen hat sich mit dessen Regulierung das geographische Setting grundlegend gewandelt. Mittlerweile ist viel eher der Suezkanal für das Schicksal des Landes von fundamentaler Bedeutung.

Für die altägyptische Kultur spielte der Nil durch seine jährliche Überschwemmung, die die Felder befruchtete, die Rolle eines Lebensspenders. Das ist mit dem Bau des Assuanhochdamms und dem Ende der Überschwemmungen vorbei. Damit hat der Nil seine geradezu numinose Aura verloren und ist ein Fluß fast wie jeder andere geworden. Heute treibt er die Turbinen des Staudamms an und versorgt Ägypten mit Elektrizität. Seitdem hat jeder ägyptische Haushalt, auch der ärmste, elektrisches Licht und einen Fernseher. Das hat erhebliche Auswirkungen auf das Sozialgefüge gezeitigt. Die friedliche Revolution, die wir erleben, ist gar nicht denkbar ohne massenhaften Zugang zu Computern und Mobiltelefonen.

Wenn in der arabischen Welt politische Umbrüche stattfinden, löst das die Sorge aus, radikale Islamisten könnten das Staatsruder übernehmen. Im Gefolge des kurzen „Jahrhunderts der Extreme“, als das Eric Hobsbawn die Epoche von 1914 bis 1989 bezeichnet, baute sich eine Welle religiös motivierter Politik auf. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?

Was Ägypten angeht, scheint mir die Sorge unbegründet. Weder die Leute, die auf die Straße gegangen sind, noch die Armee, die die Sache jetzt in die Hand nimmt, wollen die Mullahs, das ist eine säkulare Bewegung. Im Gegenteil: Eher haben die islamischen Gottesstaaten Grund zur Sorge. Was die Rückkehr der Religion in die Politik angeht, setze ich als Stichdatum die Iranische Revolution 1979 an. Plötzlich war zur allgemeinen Überraschung von der Wiederkehr der Religion die Rede. Diese wurde anfänglich positiv diskutiert.

Michel Foucault hat für den Corriere de la Sera während seiner zwei Aufenthalte 1978 geradezu euphorische Reportagen zur Iranischen Revolution verfaßt.

Das veränderte sich, als das iranische Regime sein wahres Gesicht zeigte und die Gewalttätigkeit des Islamismus zutage trat. 1989 schließlich wurde die Fatwa gegen Salman Rushdie ausgerufen. Davor stand alles im Bann der Säkularisierungsthese Max Webers: Rationalisierung und Weltentzauberung seien ein unaufhaltsamer und unumkehrbarer Prozeß der Aufklärung. Plötzlich kehrt die Religion zurück. Zum einen in Form des Islamismus, des Fundamentalismus, einer immer stärkeren Einflußnahme religiöser Kreise auf die Politik. Eine verhängnisvolle Entwicklung. Zum anderen als Diskursereignis. Die Religion ist zum Thema des intellektuellen Diskurses geworden. Das Thema „Monotheismus“ hätte vor zwanzig Jahren noch keinen Leser hinter dem Ofen hervorgelockt. Das hat sich geändert, wie das Comeback von Der Mann Moses und die monotheistische Religion von Sigmund Freud zeigt. Das Buch war bis 1990 in Vergessenheit geraten. Nach 1990 wird es plötzlich als eines der Hauptwerke des 20. Jahrhunderts betrachtet. Seit Yerushalmis Buch Freuds Moses vergeht kein Jahr, ohne daß nicht wichtige Bücher darüber erscheinen, Tagungen stattfinden. Das Werk, das vorher nur ein paar psychoanalytisch interessierte Literaturwissenschaftler kannten, nicht einmal die Psychoanalytiker selbst – für den Therapeuten ist das Religiöse eher marginal –, ist plötzlich in aller Munde. Damit hängt auch zusammen, daß Philosophen vom Rang eines Habermas von einem „postsäkularen Zeitalter“ sprechen. Da ist eine intellektuelle Debatte entstanden, und das Abseits, in welches das Thema Religion abgedriftet war, beginnt, sich zu verflüchtigen. Die Fragen, wie sie die Religion stellt und beantwortet, gehören nun einmal zu den Fundamentalien des Menschseins, auch wenn diese Fragen außerhalb von Religion diskutiert werden. So schrecklich die Fratze des Religiösen in der fundamentalistischen Szene ist, so interessant ist ihr Profil in der intellektuellen Szene.

Die Renaissance des Religiösen meint zumeist vor allem eine Wiederkehr des Monotheismus, der eine überaus aggressive Struktur aufweist.

Das ist meine These. Mit ihr habe ich mich sehr unbeliebt gemacht. Der Monotheismus tritt in den frühesten Quellen in einer sehr gewalttätigen Form auf. Das ist gar nicht zu leugnen. Die frühesten, also die biblischen Quellen sind voll von Massakern an Baalspriestern, an Polytheisten, an Apostaten, an Rückfälligen wie zum Beispiel angelegentlich des Tanzes um das Goldene Kalb. Alles ganz im Einklang mit der Unterscheidung, auf die das Erste und das Zweite Gebot hinweisen, daß Gottes Gnade gegenüber denen gilt, die ihn lieben, und sein Zorn gegenüber denen wütet, die ihn hassen. Die Unterscheidung in „Freund“ und „Feind“ – das ist die einfache Sprache der Gewalt. Sie wird im Alten Testament textlich entfaltet, wenn auch vermutlich praktisch nicht umgesetzt. Ich wüßte von den Makkabäerkriegen abgesehen keine geschichtlichen Daten anzuführen. Sieht man aber von den Makkabäerkriegen ab, muß man feststellen, daß das Judentum mit diesen Texten sehr zurückhaltend umgegangen ist und sie später in der rabbinischen Zeit marginalisiert hat. Das kann man so vom Christentum nicht sagen. Da spielen diese gewaltverherrlichenden Texte des Alten Testaments eine enorme Rolle, wenn zum Beispiel die Frage entsteht, wie man mit Heiden umzugehen hat. Kaiser Karl V. hat sich zur Herzensberuhigung abends das zwanzigste Kapitel des Deuteronomiums vorlesen lassen, also das alttestamentarische Kriegsrecht, weil er wahrscheinlich wegen des brutalen Vorgehens gegen das Inkareich ein schlechtes Gewissen hatte. Zur Beruhigung seines Gewissens hat er sich angehört, wie die Israeliten nach dem Willen Gottes mit den Kanaanäern umgehen sollten. Bei dieser Apotheose der Gewalt handelt es sich also keineswegs nur um reine Literatur, sondern sie beinhaltet durchaus eine Handlungsanweisung, die umgesetzt wurde. Möglicherweise zuerst von Judas Makkabäus und später von christlicher Seite. Im Koran finden sich natürlich entsprechende Stellen.

Der Berliner Religionsphilosoph Jacob Taubes betont in seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, daß das Feinddenken eine zentrale Kategorie des theologischen Denkens bildet: „Theologen neigen dazu, den Feind als etwas zu definieren, was vernichtet werden muß.“

Man darf nicht vergessen, daß Jesus gesagt hat: „Liebet eure Feinde“, was die Umkehrung dieses Freund-Feind-Denkens bedeutet. Neulich sprach der Zürcher Neutestamentler Hans Weder über die Grundprinzipien der Jesusbewegung. Insbesondere über dieses „Liebet eure Feinde.“ Ich fragte, ob Gott seine Feinde denn auch liebt? Auch das Neue Testament unterscheidet ja zwischen Verdammten und Seligen. In Matthäus 25 ist beispielsweise vom Jüngsten Gericht die Rede. Dort kommen die Verdammten auf die linke Seite und die Seligen auf die rechte. Da wird durchaus eine Unterscheidung getroffen, und die Frage ist: Wie geht man mit solchen Texten um? Diese Unterscheidung ist dem Monotheismus wesentlich. Mit der Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen oder Christen und Heiden usw. kommt der Monotheismus überhaupt erst in die Welt. Vorher gab es eine solche Unterteilung nicht. Daß diese Formen religiöser Ausgrenzung vorher nicht existiert haben, wird ungern gehört. Die Öffentlichkeit setzt ungeprüft voraus, daß die polytheistischen Religionen genauso gewalttätig waren wie der Monotheismus. Doch handelt es sich beim Polytheismus gar nicht um Religion. Zum Polytheismus kann man sich weder bekennen noch kann man von ihm abfallen, dazu konvertieren oder dafür missionieren. Solche Verhaltensweisen sind vor dem Monotheismus unbekannt. Erst mit dem Monotheismus hat sich die Religion im Max Weberschen Sinne als eine eigene Sinnsphäre mit eigenen Gesetzen ausdifferenziert. Dem Monotheismus ist die Unterscheidung inhärent.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.