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LI 126, Herbst 2019

Theateranthropologie

Wo? Wann? Wie? Für wen? Warum? Einige Geheimnisse der Schauspielkunst

   (…)

Frank M. Raddatz: Ihre Buchtitel wie kürzlich Five Continents oder früher Kanu aus Papier scheinen ethnologisch inspiriert. Sie gelten neben Jerzy Grotowski als der Begründer der Theateranthropologie. Worum geht es dabei?

Eugenio Barba: In meinen Büchern vergleiche ich die Vorgehensweisen der Schauspieler aus verschiedenen Kulturen und suche nach den grundlegenden Prinzipien der verschiedenen Theatersprachen. Ich habe viel über den Charakter der diversen Formen, Theater zu spielen, nachgedacht, auch über die unterschiedlichen Weisen, wie Informationen versteckt und transportiert werden. Nur dann lassen sich trotz aller Differenzen die Gemeinsamkeiten, also die regulierenden Prinzipien dieser Kunstform, feststellen. Auch wenn die Formen unter vielen Aspekten differieren, benutzen die Schauspieler oder Tänzer strukturell verwandte Verfahren, um im Zuschauer einen dramatischen Eindruck zu erschaffen und stattfinden zu lassen. Der oberste Grundsatz lautet, daß das Verhalten auf der Bühne oder im Spiel nicht mit jenem im Alltagsleben identisch ist.
   Die Theateranthropologie beginnt mit der Frage, mit Hilfe welcher Fähigkeiten ein Schauspieler die Aufmerksamkeit eines Zuschauers zu gewinnen versucht. Handelt es sich bei diesem Talent um ein Geschenk, das von Gott kommt oder das er einem Genius verdankt, oder handelt es sich um Techniken, die sich vergleichen und lehren lassen?
   Falls ja, dann haben wir es mit Modi zu tun, Präsenz herzustellen, und dann beruht die Präsenz des Schauspielers auf seiner physischen Anwesenheit. Die Theateranthropologie untersucht das, was wir gemeinhin die Geheimnisse der Schauspielkunst nennen. Zu diesen Praktiken zählen der Wechsel der Balance, die Erzeugung von Ambiguitäten, Spannungen, Inkohärenzen usw. Darüber hinaus erforscht diese Wissenschaft weitere Parameter: Wo findet das Theater statt? Wann findet es statt? Wie wird es zelebriert und für wen? Und – ganz entscheidend – warum wird es überhaupt veranstaltet? In meinem neuen Buch, das ich mit Nicola Savarese herausgegeben habe, umreißen diese fünf Leitfragen der Theateranthropologie die „fünf Kontinente“ des Theaters.
   Unsere Untersuchung zeigt, daß die Traditionen des Theaters überall auf der Welt auf ähnlich einfachen Prinzipien beruhen. Beginnt ein Schauspieler zu spielen, verändert er sein Verhalten, so daß es nicht länger den Routinen des Alltags unterworfen ist. Das gilt für das klassische Ballett genauso wie für das japanische Kabuki-Theater. Der Körper wird dabei auf eine ganz besondere Weise eingesetzt oder benutzt. Dieser formale oder kodierte Ausdruck steht im Gegensatz zum spontanen oder natürlichen Verhalten des Körpers.

   (…)

   Warum weckt ein japanischer Schauspieler des Nō-Theaters mein Interesse? Beobachte ich ihn, fällt mir auf, daß er anders geht als ein europäischer Schauspieler. Er bewegt sich in besonderer Weise. Dabei interessiert den Theateranthropologen nicht das Singuläre dieser Form, sondern das generelle Moment. Geht ein Akteur zum Beispiel betont langsam, löst das einen Effekt aus, der seinen gesamten Körper verändert. In der gewohnten Wahrnehmung der Zuschauer bewegt sich jeder Körper mit einer gewissen, im Alltag üblichen Geschwindigkeit. Weicht jemand von dieser Geschwindigkeit ab, fällt dieser sofort auf. Damit könnte Gefahr verbunden sein. Vielleicht ist jemand auch verletzt. Durch das modifizierte Bewegungsmuster wird der Beobachter oder Zuschauer allein aufgrund seiner physiologischen Konstitution gepackt. Das ist die Art von Evidenz, auf der die Schauspielkunst beruht. Es geht dem Theateranthropologen also nicht um den Ausdruck oder den in einer Form gespeicherten Inhalt oder ob jemand ein guter oder weniger guter Schauspieler ist, sondern seine Frage lautet: Wie wird Präsenz erzeugt oder konstruiert?
   Daß dieser Präsenzmechanismus überhaupt funktioniert, hat mit unserer physiologischen Beschaffenheit zu tun, wird doch das Nervensystem des Zuschauers durch ein von Alltagsroutinen differierendes Verhalten unmittelbar angesprochen und – ob er will oder nicht – seine Aufmerksamkeit und Anteilnahme geweckt. Das hat nichts mit Bedeutung zu tun. Ich kann die Frage: „Wie wird Präsenz erzeugt?“ nicht ohne eine Analyse des Resonanzkörpers klären. Letztlich hängt diese Technik mit allgemeinen Fragen der Wirkung zusammen: „Warum genießt es der Zuschauer, den Tänzer zu beobachten? Wieso wird er berührt? Wodurch werden intellektuelle Prozesse ausgelöst?“ usw.

   (…)

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