LI 146, Herbst 2024
Phänomen Präsenz
Die Ökonomie des Schauspiels und das Geheimnis der EnergieElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Textauszug: 7.042 von 37.425 Zeichen
Textauszug
(…)
Frank M. Raddatz: Brechts Ideal: ein Spieler, der sich selbst beim Spielen zuschaut.
Lars Eidinger: Das deckt sich mit meiner Intuition. Ich verschmelze nicht mit den Figuren sondern trage sie vor mir her wie Puppen und tauche dabei immer wieder hinter ihnen auf. Ich versuche dadurch, den Zuschauenden anzuzeigen, daß das, was ich mache, gespielt ist. Dadurch wird das Spiel zu einem wesentlich komplexeren Vorgang, als wenn ich mich eindimensional in die Figur verwandeln würde. Zu sagen, er spielt nicht, sondern er ist diese Figur, finde ich total unattraktiv. Der spielerische Vorgang ist um so vieles komplexer, wenn er als Spiel rezipiert und verstanden wird.
Es geht dabei vor allem um das Phänomen der Präsenz, um Unmittelbarkeit. Ich meine, daß meine eigentliche Begabung in der Fähigkeit liegt, mich zu konzentrieren. Das Vertiefen in Situation und meine Vorstellungskraft. Daher irritiert es mich, wenn Sie mich als „Derwisch“ beschreiben. Ich kann nachvollziehen, woher das rührt, aber ich mache so vieles, das diesem Bild überhaupt nicht entspricht. Das unterscheidet mich zum Beispiel von Schauspielenden, die eine bestimmte Form haben, die sie jedem Inhalt überstülpen. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich arbeite immer von innen nach außen, über den Inhalt und versuche, dafür die adäquate Form zu finden. Wer sich verschiedene Filme mit mir anschaut, wird feststellen, daß meine Art der Darstellung sich immer sehr stark voneinander unterscheidet. Das hängt nicht damit zusammen, daß ich einen großen Originalitätsdrang oder dergleichen habe, sondern die unterschiedlichen Inhalte verlangen nach einem spezifischen Ausdruck.
(…)
Frank M. Raddatz: Wenn es auf der Bühne gelingt, Texten, die obwohl sie bekannt sind, eine unbekannte, ungehörte Dimension abzuringen, ist das auch eine Form von Glückserfahrung. Oft herrscht die Angst, daß ein Text, der 2 500 Jahre oder 500 Jahre alt ist, aufgepeppt werden muß, weil er sonst niemanden mehr interessiert. Viel entscheidender ist es, seine Kraft freizulegen, die ihn in die Lage versetzt, sich vor den unterschiedlichen Zeithorizonten, also unserem Heute zu bewähren.
Lars Eidinger: Der Inhalt des Vaterunsers ändert sich nicht. Nur die Bedeutung, wenn wir es beten, nimmt immer neue Gestalt an. Das ist bei „Sein oder Nichtsein“ genauso. Gerade, daß diese Zeilen und Bilder für jeden etwas anderes bedeuten, macht das Sprechen dieser Texte für mich so reizvoll.
Ein Tier oder ein Kind haben auf der Bühne eine ungeheure Präsenz. Wieso ist das so? Was die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf sie zieht, ist das anarchische, chaotische und ungestaltete Moment. Sie lassen sich nicht bis ins letzte inszenieren. Das macht den Reiz aus. Sie sind unmittelbar.
Dieses Phänomen habe ich mir zu eigen gemacht und meine Spielweise danach ausgerichtet. Würde ich nur wiederholen, was wir in der Vergangenheit auf einer Probe verabredet haben, damit es in der Zukunft eine Gültigkeit hat, würde ich mich in der Gegenwart um das unmittelbare Moment bringen.
Daher irritiert es mich, wenn man mich als „Rampensau“ bezeichnet, weil ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Eine „Rampensau“ spielt gegen Kolleginnen und Kollegen, um sich in den Vordergrund zu spielen. Das tue ich nicht. Im Gegenteil. Ich erfahre meine Präsenz durch das unmittelbare Moment, indem ich mich aussetze.
NIE 100 prozent GEBEN
Frank M. Raddatz: Diderot spricht vom Paradox des Schauspielers. Auf der einen Seite macht er leidenschaftliche Deklamation, während er zugleich mit großer Übersicht ein Requisit in die richtige Position schiebt. Ist das eine Art Aufspaltung der Persönlichkeit?
Lars Eidinger: Ja, aber im positiven Sinne. Ich habe mich mal mit einer Übersetzerin in Barcelona unterhalten, die mich während einer Radiosendung simultan ins Spanische übersetzt hat. Sie meinte, daß sie weiß, daß sie gut ist, wenn sie, während sie übersetzt, noch über anderes nachdenken kann. Zum Beispiel, daß sie ihre Tochter danach von der Schule abholen muß. Es geht also vielmehr um eine sehr komplexe Form der Wahrnehmung, eine Form der Bewußtseinserweiterung, die offen und nicht eingeschränkt und eng ist. Konzentration durch Aufmachen und Loslassen. Ein paradoxes Konstrukt eigentlich. Daß ich, während ich den Monolog „Sein oder Nichtsein“ spreche, noch sehen kann, wie jemand sich ein Hustenbonbon aus der Handtasche holt oder ich oben die Lichttechniker auf der Brücke sitzen sehe und weiß, daß ich gleich die kleine Pause habe, in der ich mir in der Kantine einen Kaffee hole, schließt überhaupt nicht aus, daß ich im Moment bin, im Gegenteil, es ist dem Moment gegenüber sogar aufrichtiger. Auch wertet es den spielerischen Moment auf, macht ihn reicher und komplexer, vielschichtiger.
(…)
Lars Eidinger: Angstfreiheit wird mir oft attestiert. Doch das ist ein Mißverständnis. Ich bin richtiggehend angstbesessen, habe aber den Mut, der Angst zu begegnen. Als ich anfing Filme zu drehen, spielte ich in Fenster zum Sommer an der Seite von Nina Hoss in der Regie von Hendrik Handloegten. Obwohl Nina eine ehemalige Kommilitonin von mir ist, war ich so ehrfürchtig und aufgeregt, daß ich vor jedem Take gezittert habe. Ich konnte fast gar nicht spielen, weil ich so nervös und voller Angst war. Dann habe ich begriffen, daß diese Angst eine Energie freisetzt, die ich produktiv nutzen kann, wenn ich sie nur in die richtige Bahn lenke und für mich arbeiten lasse, nicht gegen mich. Das ist ein entscheidender Unterschied. Jemand, der diesen Mut nicht hat, versucht, die Angst zu vermeiden, schützt sich und nimmt sich diese Möglichkeit. Doch Angst ist das, was uns zu Hochleistungen treibt. Das kann die Angst sein, nicht zu genügen, die Angst zu versagen, sogar Angst zu sterben. Angst ist tatsächlich das lebendigste Gefühl und jemand, der angstfrei ist, ist eigentlich tot. Leben und keine Angst zu haben, schließt einander aus. Ein Freeclimber, der keine Angst hat, fällt wahrscheinlich sofort runter. Es geht darum, sich der Angst zu stellen, nicht sie zu verleugnen.
Das gilt auch für die Aufregung. Wenn ich aufgeregt bin, kann sich dieser Zustand gegen mich stellen, ich kann ihn aber auch für mich nutzen. Wenn die Aufregung weg ist, wäre das für mich viel problematischer. Ich glaube sogar, daß ich ohne Aufregung gar keine Bühne mehr betreten würde. Mir gefällt der Ausdruck, die Bretter, die die Welt bedeuten. Er bedeutet nicht nur, daß die Bretter stellvertretend für die Welt stehen, sondern auch, daß sie mir alles bedeuten.
Mir wird ja oft Eitelkeit unterstellt. Eitel meint aber eigentlich ohne Sinn und bedeutungslos. Also im Grunde das Gegenteil davon. Es geht vielmehr darum, alles mit Bedeutung aufzuladen.
Beim Thema Narzißmus verhält es sich ähnlich. Das sind Begriffe, mit denen immer sehr leichtfertig umgegangen wird. Narziß verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild, weil er sich darin nicht erkennt und stirbt an gebrochenem Herzen, weil diese Liebe nicht erwidert wird. Das ist ein wesentlich komplexerer Vorgang, als wenn man leichthin sagt, jemand, der gerne von sich erzählt oder um sich selbst kreist, wäre narzißtisch. Dabei unterläuft man die Dimension des Phänomens.
(…)