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Cover Lettre International, Valérie Favre
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Inhaltsverzeichnis

LI 115, Winter 2016

Totale Gegenwart

Zu den Verwirbelungen der Kunst nach der Moderne

(…)

PRÄSENZ UND INTENSITÄT

RADDATZ: Welche Rolle spielt die Intensität bei der Erzeugung von Gegenwart bzw. in der Präsenzästhetik?

OBERENDER: Die Frage betrifft die Art der Präsenz. Es gibt eine essentialistische Auffassung von Kunst, in der es um die Präsenz des Numinosen geht – das Kunstschöne ist hier eine Erscheinung des Absoluten, und Kunst legitimiert sich dieser Idee zufolge nicht durch die Gesellschaft, den Kunstmarkt oder Kritik, sondern ist eine Sprache des Anderen und trägt ihren Wert in sich. Dieser Ansatz korrespondiert mit der seltsamen Zeitent-
hobenheit von Kunst. Warum veralten wissenschaftliche Texte und nehmen wir das, was vor 300 Jahren Lehrbücher waren, heute nur noch historisch zur Kenntnis, während ein mehrere Jahrhunderte alter literarischer Text eine Form von Gegenwart oder Gegenwärtigkeit besitzt und Formen von Aktualität erzeugen kann, wie das nichtkünstlerischen Texten äußerst selten, wenn überhaupt gelingt?
Diesem Gedanken entgegen steht eine Auffassung von Präsenz, die eher etwas mit Einmaligkeit und Originalität zu tun hat, also einer Wertschätzung, die dem Werk erst im sozialen Funktionszusammenhang zuteil wird. Beide Ansätze verhalten sich zueinander wie, sagen wir, Tolstoi zu Gorki.
Präsenz ist in jedem Fall das Einleuchtende. Die klassische Antike kannte nur Uraufführungen im griechischen Theater – ein ums andere Mal ausgetragene Wettbewerbe um die überzeugendste Präsenz eines für die Polis relevanten Themas in der Form der Tragödie. Die Tragödie war, zumindest in den wenigen Jahrzehnten der Athener Klassik, der „praktische Gottesdienst“ der Griechen, wie W. H. Auden es genannt hat.

RADDATZ: Jede Inszenierung war Interpretation eines bekannten Mythenstoffes.

OBERENDER: Die Dichter haben, was an gesellschaftlichen Konflikten von Bedeutung war, aber eben aufgefaßt und transponiert in das tragische Dilemma der Existenz, unverschuldet schuldig zu werden, angeschlossen an den der Polis bekannten Mythenkreis. Aber das war kein Berufstheater im heutigen Sinne, sondern eine kollektive Durcharbeitung im Ritual der Tragödie mit ihren fünf Stücken und dem dazwischenliegenden Satyrspiel. Dieses mehrtägige Ereignis der Dionysien ermöglichte in den Prozessionen, dem großen Opfer, den Versammlungen der Polis, im Rausch und Spiel eine sehr intensive Erfahrung des aktuellen Zustands der Gemeinschaft. Hier fallen Präsenz und Präsens zusammen. Das Drama ist immer in der Jetztzeit geschrieben. Diese von den Griechen auf die aktuale Begegnung hin orientierte Literaturform war anfänglich nicht dafür gedacht, daß man sie später wieder hervorholt, neu interpretiert und anders betrachtet.

DÜTTMANN: Die Erzeugung von Gegenwart hat immer auch mit einer Intensitätserfahrung zu tun. Denn Präsenz, Gegenwart als Gegenwärtigsein des Gegenwärtigen, ist genau das, was Intensität ausmacht. Intensität bedeutet, daß das wahrnehmende Subjekt im Augenblick so sehr eins ist mit sich und mit dem, was es wahrnimmt, daß es sich erfüllt und gestärkt fühlt, eine Steigerung erfährt, die es über sich hinausträgt. Eine Differenz muß freilich erhalten bleiben, ein Unterschied zwischen einem Mehr und einem Weniger, denn Intensität bezieht sich ja auf einen gefühlten Grad. So ist also jede starke Erfahrung von Gegenwart und damit auch von Kunst, die Gegenwart erzeugt, eine Erfahrung von Intensität, was immer auch im einzelnen Fall ihre Besonderheit ausmachen mag. Häufig steht es um Werke, Praktiken, Instanzen oder Manifestationen der Gegenwartskunst so, daß die Begegnung mit ihnen diesen einen Moment der Intensität kennt und dann kaum mehr über ihn hinausgeht. Das ist geradezu ein Merkmal von Gegenwartskunst.
Lassen Sie mich auf den Begriff der Uraufführung zurückkommen. Aus der Perspektive der Gegenwartskunst, aus der Perspektive einer Kunst, die eine vorhandene Gegenwart noch einmal erzeugt, müßte man sagen, daß es nichts als Uraufführungen gibt. Es gibt einen Text in der Literatur, der diese Sicht der Gegenwartskunst auf die Spitze treibt. Er heißt Pierre Menard, Autor des „Quijote“, sein Autor ist Jorge Luis Borges. Menard ist ein unbekannter Schriftsteller, dem es gelingt, den Don Quijote noch einmal zu schreiben, als hätte das Buch nie existiert, als hätte es das Buch nie gegeben. Er kopiert das Buch nicht, er lernt es nicht auswendig, sondern er schreibt es ein zweites Mal, als wäre es nie vorher geschrieben worden. In diesem wunderbaren Text von Borges heißt es, daß einerseits die beiden Texte ununterscheidbar sind, also vollkommen textgleich sind und sein müssen, andererseits aber gänzlich verschieden. Die Behauptung, daß es nur Uraufführungen gibt, meint diese Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz.

OBERENDER: Gegenwartskunst in diesem Sinne hebt die Trennung zwischen Schöpfer und Ausführendem auf, und in letzter Konsequenz betrifft das auch die Rolle des Publikums, das es im alten Sinne dann nicht mehr gibt. Für Maurice Maeterlinck waren ja nicht einmal die Schauspieler schöpferische Menschen, also keine Künstler im eigentlichen Sinne. Das war nur der Autor. Gegenwartskunst hingegen installiert ein Dispositiv, das nur noch Künstler kennt – auch Kuratoren und Kritiker nehmen hier immer öfter die Rolle von „Autoren“ ein. In diesem Gegenwartstheater geht es nicht mehr um die Uraufführung als Urmanifestation eines vorher festgeschriebenen Werkes, sondern an die Stelle dieser erstmaligen Vergegenwärtigung tritt die Erzeugung einer in alle Richtungen „flüssigen“ Situation, die das Ursprüngliche selbst sucht.
Bereits Antonin Artaud und Gertrude Stein plädierten dafür, das repräsentative Modell des Theaters zu verlassen, und wendeten sich stärker dem ästhetischen Zustand selbst zu. Insbesondere bei Artaud ist Intensität das entscheidende Thema. Es ging für ihn nie nur „als ob“. Die „Intensivstation des Lebens“ hat Botho Strauß einmal Schmerz, Schlaf, Traum, Schrei genannt. Diese Erfahrungen, die den Menschen in einen Zustand versetzten, der ihn vollkommen absorbiert, ist das Ende der Reflexion. Es ist eine Überwältigungserfahrung, die uns für Augenblicke das Medium vergessen und uns eintauchen läßt in das, was ästhetisch als ein welterzeugender Vorgang stattfindet. Plötzlich sind wir Teil dieser Welt, vergessen das Buch in unserer Hand und sind mit Anna Karenina in dieser Situation, ob im Roman, im Film, auf der Bühne.
Dieser Moment wird im Englischen als „immersive“ bezeichnet und moderne Technologien beuten ihn auf bislang ungeahnte Weise aus, indem sie Erlebnissituationen schaffen, die das Eintauchen als einen Dauerzustand herstellen. Aus solchen Momenten speist sich das uralte Mißtrauen gegen die Kunst, denn wo sie sich am berückendsten ereignet, raubt sie uns die Reflexion – sie macht uns in gewissem Sinne klüger, aber auch dümmer. Das ist ein Aspekt, der in der Gegenwartskunst radikalisiert wird, weil er stark auf das Affektive zielt.

UNSER HEUTIGES ZEITREGIME

RADDATZ: In diesem Sinne ist jeder Stierkampf ein Ereignis wie eine Uraufführung, sind Sport und Spiele die eigentlichen Zentren der Kunsterfahrung. Gegenwartskunst produziert auf andere Weise Zeit als das traditionelle Drama. Ob Wagner das Kunstwerk der Zukunft schreibt, Lessing antizipatorische Faktoren ins Theaterspiel einbaut oder Heiner Müller die Toten ausgraben will, immer geht es ihnen um eine Einwirkung auf die Zukunft. Ihre Kunst begreift Zeit als Fluß, wo die Jetztzeit den Übergang zur Zukunft bildet, die beeinflußt werden soll. Gegenwartskunst sattelt auf einem anderen Zeitregime als die Moderne samt ihren Vorläufern. Das narrative Geschehen zieht nicht mehr an mir vorbei, sondern ich bin aufgefordert, zu kommunizieren, Spiele zu spielen, Orte jenseits der Kunst aufzusuchen, oder werde auf andere Arten involviert.

DÜTTMANN: Die Gegenwartskunst bezieht sich zwar wie andere Kunst auf die Vergangenheit und die Zukunft, allerdings in einem Zusammenhang, den ich ein wenig abstrakt mit der Formel „die Fiktion reinen Machens“ bezeichnen möchte. Ich führe diese Wendung ein, um das Wesen der Gegenwartskunst zu treffen. Wenn ich mich frage, was in der Gegenwart geschieht, handelt es sich immer um ein Machen, unabhängig davon, wie man das Machen, das Tun und das Herstellen, jeweils bestimmt. Eigentlich besteht Gegenwart aus nichts anderem als einem Machen. Zugleich gibt es dieses Machen lediglich als Fiktion, in einem Rahmen, den man schaffen muß, den man übernimmt oder verändert. Weil das Machen, das in der Gegenwart stattfindet, hier und jetzt, nicht ohne Rahmen auskommt, kann die Gegenwartskunst einen Bezug zur Vergangenheit oder einen Hinweis auf die Zukunft enthalten.
In der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Theater stößt man auf die Vorstellung, daß Theater sich gesellschaftlich oder politisch unmittelbar auswirken soll. Gemeint ist, wie man einem Text von Florian Malzacher entnehmen kann, ein Theater, das zu etwas dient oder das etwas bringt. Man versucht – und damit komme ich auf die aufgeworfenen Fragen nach Vergegenwärtigung und Uraufführung zurück – etwas zu machen, das eine Art von totaler Gegenwartskunst ist. Es gibt kein Element mehr, das nicht in die Erzeugung der Gegenwart integriert wird. Deshalb gibt es auch keine Trennungen mehr zwischen einem vorgegebenen Text, der aufgeführt, gesprochen oder vergegenwärtigt wird, zwischen Schauspielern hier, Publikum da, Technikern dort. Durch die Eingliederung all dieser Elemente in ein Hier und Jetzt soll alles so miteinander wirken, daß eine totale Gegenwart entsteht.
Man geht also nicht mehr davon aus, daß das Theater in der Öffentlichkeit einen Ort hat, sondern davon, daß das Theater selbst die Öffentlichkeit hervorbringt, und zwar in einer totalen, allumfassenden, alles einschließenden Gegenwart. Diese totale Gegenwart versteht man politisch, sieht in ihr den andauernden Augenblick radikaler Demokratie. Das Theater wirkt nicht mehr auf eine vorausgesetzte Öffentlichkeit ein, um sie zu verändern, um sie auf eine Zukunft hin anders zu konzipieren, sondern diese Veränderung findet im Hier und Jetzt der Theateraufführung statt, die sich räumlich und zeitlich kaum mehr abgrenzen läßt, denn es gibt nichts, was nicht dienlich wäre. Da die Dienlichkeit politisch gedeutet wird, bleibt sie auf eine Zukunft bezogen, auf eine Veränderung, die aber in der Gegenwart oder in einer verlängerten Gegenwart stattfinden soll. Man versteht das, was im Theater geschieht, zwar prozedural, nicht alles ereignet sich auf einmal und gleichzeitig, doch das Geschehen bleibt an die Gegenwart gebunden. Das ist für mich ein gutes Beispiel für eine „Fiktion reinen Machens“, denn eine solche politische Interpretation des Theaters impliziert schon eine Rahmung. Nur sie erlaubt es, zu behaupten, daß in dem Augenblick, in dem alle Elemente, die zum Theater gehören, gegenwärtig sind, gleichbehandelt werden und sich gleichermaßen in das theatralische Geschehen einbeziehen lassen, eine politische Veränderung stattfinden kann, die sich in der Gegenwart ereignet.

ECHTZEITTHEATER

OBERENDER: Wenn Gegenwartstheater derart das Prozedurale oder Prozeßhafte forciert, entsteht ein „Echtzeitoriginal“. Anders als das klassische Stück, das es als geniale „Software“ auch noch gibt, wenn der Autor tot ist, überlebt ein solches Werk seine Autoren nicht – es ist ein Werkbegriff, der unablösbar mit den Machern, dem Ort und der Konstellation verknüpft bleibt. Der Bezug zur Zukunft liegt für mich hier nicht in der Wiederbegegnung mit den Toten, wie das Heiner Müller beschrieb, sondern in der offenen Begegnung mit den Lebenden, das heißt den im Raum Anwesenden. Diese feedbackbasierte Situation stiftet für eine gewisse Zeit eine alternative Verhaltenswelt – nicht mehr die Stimme eines Meisters spricht, sondern es geschehen verwirrende Dinge, und ich bewege mich mittendrin. Diese Form von Gegenwartstheater verläßt die Bühne, es ist kein eingehegter Prozeß mehr, sondern entsichert die Veranstaltungsform und letztlich auch die Institutionen, die sie durchführen. Künstler wie Christoph Schlingensief etablierten selbst im traditionellen Theaterzusammenhang eine andere Verhaltenspraxis, die eher situationistisch ist, ein Vorgeschmack, ein Vorschein anderer Verhältnisse, und nie nur „Theater“. Solche Situationen begreife ich als ein Machen, das kein Außen kennt. Wer in die Theaterhöhlen oder Labyrinthe von Vegard Vinge/Ida Müller oder Jonathan Meese gerät, erlebt Künstler, die das Publikum wahrnehmen und die klassische Trennung von Kunst und Leben tendenziell auflösen.

DÜTTMANN: Die Rede von einem Vorgeschmack beinhaltet, daß das Vorweggenommene noch nicht eingetreten ist, noch nicht wirklich existiert, weil die gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen so sind, daß es erst in der Zukunft wirklich werden kann. Dagegen ist in dem, was ich die „totale Gegenwartskunst“ genannt habe, der Anspruch ein viel stärkerer, nämlich, daß das emanzipatorische Ereignis nicht nur ein Vorschein ist, sondern tatsächlich hier und jetzt passiert. Es findet im Moment wirklich statt. Es wird nicht darüber reflektiert, ob etwas unter gegebenen gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen überhaupt möglich ist. Entweder ist es jetzt möglich, findet jetzt statt, oder es geschieht überhaupt nicht. Also geht es nicht um einen Vorgeschmack. Der Schein des Vorweggenommenen fällt mit der Wahrheit im Hier und Jetzt des gegenwärtigen Augenblicks zusammen. Wir haben es mit einem Original zu tun, mit einem „Ur“, das sich nicht mehr einer Kopie oder einer Reproduktion entgegensetzt, weil es nichts anderes mehr gibt als Gegenwart. Es gibt kein Außen mehr.
Hier setzt meine Kritik ein. Denn wenn es kein Außen mehr gibt, dann gibt es aus politischer Perspektive auch keine wirkliche Veränderung mehr. Eine wirkliche Veränderung muß immer einen Bezug zu einem Außen herstellen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.