LI 106, Herbst 2014
Wider die Verzwergung
Vom Schauspielerleben und vom Theater als selbständiger KunstElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
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Textauszug
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Frank M. Raddatz: „Offene Dramaturgie“ meint, daß im Verlauf der Proben kein rigides Konzept durchgeführt wird, sondern der Probenprozeß als ein Feld von Gestaltungsmöglichkeiten, als ein Freiraum verstanden wird. Auf welche Weise entwickeln Sie eine Figur, wie legen Sie eine Rolle an?
Jürgen Holtz: Bewußt habe ich die Idee einer Rolle wohl zum ersten Mal bei „La Mutti“ entwickelt, wie wir Die Mutter von Brecht nannten. Regie führte Ruth Berghaus, der ich einiges verdanke. Die Mutter war damals in der DDR schon ein schwieriges Stück geworden. Nach Ansicht der potentiellen Zuschauer war Die Mutter gelogen. Heiner Müller hatte die Parole ausgegeben, das Stück sei der „Bericht von einem fernen Stern“. Als Konwitschny die Liedtexte in der Mutter ohne Musik einfach nur sprach, war das ein merkwürdiger, sehr gegenwärtiger Moment, weil wir das deutliche Empfinden hatten, daß wir die Sprache, das Anliegen Bertolt Brechts wieder verstanden. Das hatte plötzlich wieder Schärfe.
Ich spielte den Lehrer. Ich hatte die Figur schon mehrmals gesehen. Kollegen, die mit Brecht vertraut waren, hatten den Lehrer ironisiert. Das wollte ich keinesfalls. Als wir zu proben begannen, sagte die Berghaus zu mir: „Holtz, warum gähst’n du so krümm? Bist doch ’n scheener Kerl. Wie siehst’n du aus? Das ist ja wie’s Pflichtmandat.“ Ich schämte mich in Grund und Boden. Es stimmte ja. Am nächsten Tag kam ich zur Probe aufrecht, und ich hatte mich besser gekleidet. Den Lehrer krumm zu machen hieß, ihn zu doppeln. Ihn gerade, aufrecht zu spielen, bedeutete, ihn als jemand zu zeigen, der für seine Ansichten einsteht. Dann habe ich den Lehrer als den Mann gespielt, der die Mutter liebt, der sie schützen will, vor sich selbst und dem kommunistischen Unfug. Als einen sympathischen, auch komischen Menschen. Ich habe den Text gespielt, ohne ein Wort zu ändern. Der Lehrer wurde vom Trottel zur ernst zu nehmenden Gegenfigur. Das war ein Ausbruchsversuch aus der Starre der Ästhetik des Berliner Ensembles.
Damit fing ich an, Ideen in Rollen einzubringen. Damals habe ich etwas gespielt, und das gehört zur Rollenidee, was unmittelbar mit den Zuschauern bzw. der Klemme zu tun hatte, in der wir alle steckten. Den Leuten bereitet es Vergnügen, wenn sie mitdenken können und nicht nur Gefühle vorgeführt bekommen.
Generell orientieren wir uns noch immer an einem Begriff von Drama aus dem 19. Jahrhundert. Der gängige Begriff des Dramas ist vom Bedürfnis des Theaters nach Aneignung und das heißt Nivellierung geprägt. Das Theater wird trotz seiner unendlichen Möglichkeiten in dieser überholten Form der Dramaturgie verhandelt, behandelt und aufgeführt. Das Theater als selbständige Kunst war zu selten auf der Höhe seiner Literatur, seiner Zeit. Brecht hat nichts genützt und Müller schon gar nicht. Deren Denken wird von den Theatern nicht rezipiert. Man hat Angst davor oder versteht es nicht. Theater wird auf einen Gefühlsinhalt geschrumpft und ist nicht etwas, das sich denken läßt. Das führt zu Schauspielern, die fühlen, das macht sie angeblich glaubwürdig. In dieser Reduktion vollzieht sich die Aneignung, und eine solche unverstandene Okkupation von Texten kommt einem Diebstahl der Texte gleich. Dabei sind diese Schauspieler begabt. Aber was bedeutet das? Ich bin auch begabt. Aber das genügt nicht. Bei Goethe heißt es: „Der Rest ist Arbeit.“ Talent ist nur Voraussetzung, darauf kann man sich nicht ausruhen. Diese Schaufühler müssen immerfort beweisen, daß sie Schauspieler sind. Theater besteht jedoch nicht darin, immerfort Talent unter Beweis zu stellen, überhaupt die Künste nicht.
In der DDR gab es den Ausdruck „Schaudenkerei“, wenn der Schauspieler nur bedeutend war, es aber nicht zum Spiel kam. Oft spielte man überhaupt nicht. Diese Schaudenkerei war Ausdruck und Ergebnis des dramaturgischen Plan-Theaters.
Denken und Spiel
Im Grunde geht es um eine Kombination von Denken und Spiel. Denken kann man nur, wenn man frei ist, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Wer bedrängt wird, kann nicht frei denken. Um diese Freiheit zu schaffen, will ich die Figur öffnen, und ich öffne sie mit einer Rollenidee. Wenn diese Offenheit herrscht, können die Zuschauer mitdenken. Es geht nur um diese Offenheit. Als Schauspieler ist man dem Blick aus dem Dunkel des Zuschauerraums schutzlos ausgesetzt! Das hat Adolf Dresen sagen wollen mit dem Bild vom Schauspieler, der mit verbundenen Augen vom Zehnmeterbrett springt.
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Ich erinnere mich an eine Nachmittagsprobe. Geprobt wurde die Szene, in der Jean der Julie gesteht, daß er sich als Zwölfjähriger unter einem Laubhaufen versteckt hat, um sie von unten zu sehen – eine Schlüpfrigkeit. Wie spielt man so etwas auf einer leeren Bühne? Ohne Kulissen, Auftritte, Möbel? Wir haben gemacht, was man macht, wenn man keinen Stuhl hat: uns auf die Knie des anderen gesetzt. Also habe ich den Text, einen Block von albernen fünf Zeilen, gesungen und das Singen ausgeweitet. Habe vorwärts gesungen, rückwärts gesungen, in Halb- und Vierteltonschritten, nach oben, nach unten, silbenweise, Rhythmuswechsel. Das habe ich eine Stunde und zwanzig Minuten getrieben. Jutta Hoffmann saß auf meinem Rücken, ist in die Kantine gegangen und hat sich Kaffee geholt, hat auf mir hockend geraucht. Ich habe nicht aufgehört. Die beiden Regisseure saßen da. Sie haben mich nicht erlöst. Kein Wort, nichts. Ich bin in einen Rauschzustand gekommen und konnte nicht aufhören. Am Ende kroch ich unter Julies Rock wie unter eine Kaffeemütze und sang. Dann konnte ich nicht mehr. Jutta Hoffmann sagte: „Ach, spielen wir Haut.“ Dann haben wir beide uns gestreichelt und dabei das Wort „Haut“ gesagt: zart, verliebt, groß, leise, laut. Die Regisseure saßen immer noch da im Dunkeln ohne ein Wort! Dann haben wir uns schmutzige Witze erzählt. Damit endete die Probe. Zu Hause habe ich versucht, meinen Gesang zu notieren. Ich kann keine Noten, aber ich konnte das dann doch ungefähr aufschreiben. Sogar die Wiederholung der Szene am nächsten Tag gelang.
Nach der Generalprobe waren wir verboten. Vom Magistrat und von der Bezirksleitung saßen zwei Damen in der Generalprobe. Beide telefonierten mit ihren Behörden und sagten vorsichtshalber, daß das nicht gut, daß es politisch unreif und verwerflich sei. Hätten sie es gut gefunden und die höheren Funktionäre wären nichtsahnend in die Premiere gegangen und hätten es abgelehnt, wäre es ihnen übel ergangen, denn dann hätten sie als Wachhunde versagt und nicht angeschlagen. Paul Dessau jedoch, der Komponist und Ehemann von Ruth Berghaus, hatte die Probe gesehen und beschlossen, die Produktion zu schützen.
Schließlich – wir hatten uns alle tief betrunken vor Verzweiflung – durften wir die Premiere doch noch spielen. Da geschah folgendes. Jutta Hoffmann und ich erzählten uns Witze: „Es klingelt, ein junger Mann steht vor der Tür. ‘Bitte?’ fragt die Frau, die aufmacht. ‘Ja, guten Tag, Frau Fischer, ich würde gerne mit Ihrer Tochter fischen gehen.’ Da antwortet die Frau: ‘Das können Sie gerne machen, aber wir heißen nicht Fischer, wir heißen doch Vogel.’“ Totenstille im Zuschauerraum. 1975 in der DDR. Dann fing oben im ersten Rang einer an zu glucksen und kicherte immer mehr, bis er sich in einem Gelächter erbrach und den nächsten ansteckte. Schließlich brüllte der ganze Zuschauerraum vor Lachen. Da war plötzlich ein Moment von Erlösung und Freiheit. Er war greifbar. Folgte der nächste: „Steht ein Schwein vor einer Steckdose und sagt: ‘Komm raus, du feige Sau.’“ Am liebsten hätten sich alle umarmt; das fand dann draußen statt zur Premierenfeier. Danach haben wir nach jeder Vorstellung bis morgens um sieben gesessen, mit den Zuschauern gesoffen und geredet. Das besaß als Ganzes eine politische Qualität und eine Perspektive.
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Man täuscht sich wahnsinnig und glaubt, man beherrscht diese Setzung, und ist doch ganz ahnungslos. Einmal teilte ich mir eine große Garderobe mit einem alten Schauspieler, der betrat die Garderobe immer mir dem Ausruf: „Ja, die Scheiße hier!“ Eines Tages sagte er mir: „Du mußt zusehen, daß du nicht auf die Bühne gehst und dir schon vorher vorstellst, ich muß gut sein oder komisch oder tragisch. Das wird nichts. Du mußt mit null auf die Bühne gehen und aufnehmen, was der Stall dir sagt. Nicht was du willst, ist entscheidend, sondern was kommt.“ Der Mann hatte recht. Wenn man länger auf der Bühne arbeitet, lernt man, sehr viel wahrzunehmen und auch im Zuschauerraum zu unterscheiden: Wo sitzt der, der lacht, wo ist die miese Stimmung, wo gibt es Erwartung, wo sind die doof – und das alles ungefähr gleichzeitig. Man kann begabt sein, aber die Sensibilisierung für die Bühne oder den Zuschauerraum ist etwas ganz anderes, das lernt man. Man muß die Angst verlieren. Die Angst verstopft alle Sinne. Das ist so, als wollte man beim Einatmen sprechen. Die Sprache geht mit dem Atem, mit dem Ausatmen.
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Das Ensemble organisiert sich über eine Interpretation, die jeder mitträgt. Oder auch über die Form?
Robert Wilson als Regisseur gibt ein Gerüst vor, eine Form. Die Schauspieler brauchen sie. Innerhalb dieser Form existiert eine Freiheit der Gestaltung. Durch die Form wird die Möglichkeit geschaffen, sich darin auszubreiten. Aber vertrauen die Schauspieler ihr nicht, ist alle Mühe vergebens. So schafft auch Robert Wilson Ensembles.
Brecht schuf im geteilten Deutschland des Nachkrieges mit dem Berliner Ensemble als Erster ein Ensemble-Theater. Vielleicht kannte man diesen Ausdruck in der Vorgeschichte des Theaters in Deutschland gar nicht. Benno Besson setzte das Ensemble in der Volksbühne am Luxemburg-Platz als Nachfolge des Berliner Ensembles in der DDR fort. Ein Ensemble wurde in Westberlin als Schaubühne von Peter Stein und Botho Strauß geprägt. Claus Peymann gründete in Stuttgart und dann durch politische Zwänge in Bochum mit Herrmann Beil ein Ensemble von überregionaler Bedeutung, allerdings mit der vielleicht größten Offenheit nach innen und außen, ohne ein Warenhaus von Angebot und Nachfrage zu sein.
Es ist leicht zu sehen: ich spreche von Vergangenheiten! Das Ensemble ist zu einer Angelegenheit einzelner Inszenierungsvorhaben geschrumpft. Oder war Steins Berliner Aufführung des Wallen-stein keine Ensemble-Aufführung?! Oder Jürgen Goschs Macbeth in Düsseldorf? Es gibt auch jetzt Beispiele. Die Qualität dieser Aufführungen entsteht nicht in der Homogenität ihrer Ensembles, sondern aus dem Ensemble kommen Gruppen- wie Einzelleistungen und klingen zusammen. Ich bin in Aufführungen aufgefallen. Aber das war nicht aus dem Ensemble heraus, sondern ist für sich entstanden; eine schamvolle Angelegenheit. Es ist schrecklich, wenn einer gut und ganz im Sinn es Stücks spielt, aber kein Gegenüber findet, sondern nur Vereinzelte, nichts, das sich durch die Inszenierung auf der Höhe des Stückes zum Ensemble vereinigt. Das führt zu Verzerrungen, genauso wie die Unterjochung des Einzelnen unter ein Gruppendiktat, wie ich es bei Schleef leider auch erlebt habe. Das Ensemble schließt den Protagonisten nicht aus. Vielmehr braucht es ihn! Homogenität des Ensembles ist nicht zu denken.
Ich hatte bei Einar Schleef beweisen können, daß die rhythmisierte Sprache seiner Aufführungen vom Schauspieler völlig verinnerlicht werden kann, wie wenn man so immer spräche. Ich habe bei Schleef Lust und Glauben an das Ensemble aber auch verloren, denn ein Schauspieler-Ensemble kann man nicht zum Chor machen. (Obwohl das in der Massengesellschaft und ihrer Perspektive in der Schicksallosigkeit gerechtfertigt scheint). Chorisches Arbeiten im Schauspiel muß außerordentlich trainiert werden, damit der Chor seine Dynamik, Kraft und Wahrheit erreicht. Ich habe in Schleefs Arbeiten erlebt, daß Laien „von der Straße“ Schauspielern in ihren chorischen Leistungen weit überlegen waren. Die Schauspieler waren von chorischer Arbeit nicht begeistert, sie interessierten sich dafür auch nicht. Sie waren davon so wenig zu überzeugen, wie davon, daß wenn die Wörter schon dastehen, sie nicht auch noch extra betont werden müssen; bei Einar Schleef verhielten sich die Schauspieler gegenüber den Laien immer wieder sehr überheblich und unverständig. Sie stellten immer wieder ihre Bedeutung als Schauspieler über die Worte, die sie zu sprechen haben. In Bessons Inszenierung des Ödipus erlebte ich das Gegenteil. Unter Anleitung eines algerischen Trommlers sangen und tanzten meine Kollegen einen Chor von hoher Wirkungskraft. Schleef kannte diese Arbeit natürlich, sie ist der seinen nicht vergleichbar, so wenig wie die Chorarbeiten von Peter Stein. Aber das ist alles vorbei!
Tabori sagte zu uns, als er seinen amerikanischen Brecht-Abend am BE inszenierte: „Ihr müßt einander zuhören! Öffnet euch für den anderen, dann ist es für euch selbst halb so schwer.“ Das ist einfach wahr, aber selten. Meist kommen Leute über den Erfolg zusammen. Den Erfolg, den angeblich nur einzelne errungen haben – der Regisseur vorneweg, daneben noch ein, zwei oder drei Schauspieler. Aber jeder bleibt vereinzelt. Das ist traurig und kein positives Beispiel. Aber Erfolg stützt und stärkt, rückt ein Ensemble dann, ohne besonderes Ansehen des einzelnen, zusammen!
Der Abbau des Ensembles entspricht der neoliberalen Tendenz zur Vereinzelung. Das Theater scheint sich der Logik des Marktwerts zu unterwerfen.
Wenn Fragen wie: „Wodurch lande ich am besten auf dem Markt?“, „Wie werde ich am teuersten?“ ins Zentrum der Kunst vordringen, stärkt das Egoismus und Einsamkeit.
Oft wird das Theater mit bloßem Pragmatismus betrieben. Ich spreche dagegen von einem Ideal, denn ohne ein Ideal kann man keine Kunst machen. Jeder glaubt in seinem Leben an etwas. Das ist auch bei Rollen so. Wenn man an seine Figur nicht glaubt, funktioniert es nicht. Zyniker kann man im Theater vergessen. Je schlimmer die Zeiten werden, um so mehr ist man verpflichtet, den Glauben an eine eigene Mission zu mobilisieren. Andere schaffen das nicht, weil sie nichts entstehen lassen wollen.
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