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LI 138, Herbst 2022

Theater der Exzesse

Artistenträume oder Momente der Erleuchtung in der Zirkuskuppel

(…)

Frank M. Raddatz: Wenn man das zentrale Motiv der Figur erwischt, erkennt man die ganze Melodie.

Eva Mattes: So geht es mir. Bei unserer ersten Arbeit, Die Wildente, wollte mich Zadek nicht. Sondern ein vierzehnjähriges Elfenmädchen, etwas ganz Zartes. Außerdem schimpfte er, ich wäre schon neunzehn und nicht vierzehn. Ein absurder Vorwurf am Theater, denn man kann noch mit fünfundzwanzig eine Vierzehnjährige spielen. Jedenfalls hatte das Haus mich gegen seinen Wunsch besetzt. Zuerst ließ er mich zehn Minuten im ganzen Bühnenraum hin und her gehen und sagte dann: „Du gehst nicht richtig. Du bist überhaupt nicht auf dem Boden. Du bist keine Elfe. Du bist ein pickliger, schwitzender Elefant!“ [lacht]. Da dachte ich: „Okay, ein Elefant geht tatsächlich anders als eine Elfe! Er hat recht, ich habe gar keine Bodenhaftung!“ Ich wollte mich tatsächlich zur Elfe machen, weil mir jemand gesagt hatte, daß er mich nicht will. Daraufhin habe ich mir gesagt: „Dann will ich ihn auch nicht und verliebe mich auch nicht!“ Das konnte ich schon nach zehn Minuten nicht mehr durchhalten, weil er auf der Leseprobe so tolle Sachen sagte, die ich noch nie von einem Regisseur gehört hatte.
     Dadurch, daß Zadek soviel von Menschen versteht, wie sie miteinander sind und welche Abgründe sie in sich tragen, hat sich mir eine völlig andere Welt eröffnet. Dieser Kommentar mit dem Elefanten war sein einziges Statement. Danach hat er die ganzen Proben über nie mehr etwas gesagt. Bis auf einmal, als er mich fragte: „Du mußt wissen, wo die Wildente ist. Wo ist die Wildente bei dir?“ Bei der nächsten Probe der Szene wußte ich, wo die Wildente ist. Anschließend meinte er nur: „Siehst du, jetzt weißt du, wo sie ist!“ Mehr haben wir nie darüber gesprochen. Die Wildente befand sich in meinem Bauch. 

(…)

Frank M. Raddatz: Das Faszinierende an diesem Beruf ist, daß es bei aller Verwandlungskunst und Verstellung doch so etwas gibt wie eine Wahrheit von Figur und Schauspieler.

Eva Mattes: Ich muß die Figur auf meinem eigenen Boden erfinden. Da ist der Schriftsteller oder Autor, der den Text geschrieben hat, hinzu kommt der Regisseur und schließlich meine Phantasie, also mein Ich, denn ich bin es, es ist mein Körper, meine Haut, meine Stimme, die ich verstellen oder gestalten kann. Das alles muß ich mit der Figur verbinden. Bekommt sie keinen Boden oder keinen Kern, dann glaubt der Zuschauer ihr nicht. Dann bleibt die Figur eine Schablone und beginnt nicht zu leben.
     Ich hatte das Glück, István Szabó kennenzulernen. Das war bei dem Fünf-Seen-Festival am Starnberger See. Er war Ehrengast wie ich auch. Wir verbrachten zwei intensive Tage, und es wurden zahlreiche Filme von ihm gezeigt. In einem spielte Glenn Close in jungen Jahren mit einem Partner einige unglaublich intime Liebesszenen. Doch man sah nur ihre Köpfe. Die beiden saßen quasi im Bett, redeten, liebten sich und waren dabei nah miteinander. Glenn Close spielte überwältigend. Ich habe Szabó gefragt, wie er diese Schauspieler dahin gebracht habe, so miteinander zu spielen. Er erzählte, daß sie sich mit diesen Szenen sehr schwertat, sie ungefähr zwanzigmal wiederholt wurden. Aber er habe die ganze Zeit nichts dazu gesagt. Irgendwann platzte es aus Glenn Close heraus: „Ich weiß jetzt nicht mehr, was ich machen soll. Was wollen Sie denn?“ Da antwortete er: „Ich sehe den Engel nicht über Ihnen!“ Das hat sie verstanden. Danach ist das entstanden, was man in dem Film sieht.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.