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Cover Lettre International 130, Mark Lammert
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Inhaltsverzeichnis

LI 130, Herbst 2020

Aktanten-Theater

Vom Naturausbeutungsmodell zu erdsystemischen Zukunftshorizonten

(…)

Lob der Ausbeutung
Da Brechts Theatertheorie einerseits fest auf dem Fortschrittsbegriff und die Verwissenschaftlichung der Welt sockelt und andererseits zwar durchaus jene Kraft sieht, die verhindert, daß technisch-wissenschaftliche Aufklärung zur Rationalisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse beiträgt, ihr aber kaum Kontur verleiht, steht das epische Theater auf unsicherem Baugrund. Diese Dichotomie läßt sich bis zu jenem Riß verfolgen, der die gemeinhin „Kultur“ und „Natur“ genannten Bereiche trennt. Die Fundamentierung des epischen Theatergebäudes auf dem Erfolg der Naturbeherrschung induziert eine Asymmetrie, die sich als Schlüssel für die wenig durchdrungenen Untergeschosse des Wissenschaftstheaters erweist. Die Anomalie entsteht, indem für das Soziale einerseits und dessen sogenannter Umwelt andererseits konträre Spielregeln Anwendung finden.
     Die Effizienz der technisch-wissenschaftlichen Verfahren bei der Umgestaltung des Planeten verleitet Brecht zu dem Kurzschluß, die rigorose Naturbeherrschung als taugliches Paradigma für die Neuordnung der Gesellschaft und des Dispositivs Theater identifizieren zu können. Seine Ausgangshypothese lautet: Die Prinzipien der sozialen Transformation wurden bislang nur unzureichend entfaltet, weil „die Wissenschaften, so erfolgreich in der Ausbeutung und Unterwerfung der Natur, von … dem Bürgertum gehindert werden, ein anderes Gebiet zu bearbeiten …, nämlich das der Beziehungen untereinander bei der Ausbeutung und Unterwerfung der Natur“. Ein böser Wille, so diese Logik, erschwert es dem Geist der Naturbeherrschung, sämtliche Bereiche der gesellschaftlichen Pyramide gleichermaßen zu durchdringen, so daß sich kein soziales Gleichgewicht herstellt. Der eigentliche Skandal entgeht Brecht, da er die Ausbeutung und Unterwerfung der ökologischen Sphäre im Namen der Verteilungsgerechtigkeit zwar kritisiert, aber sie im gleichen Atemzug glorifiziert. Was beispielsweise Adorno und Horkheimer mit dem Begriff der inneren wie äußeren Naturbeherrschung am Zivilisationsprozeß defizitär ausweisen, weisen Brechts Theateraxiome zurück. Klimapest und aktuelle anthropozäne Dystopien lassen diese positive Wertschätzung von Ausbeutung und Unterwerfung der Natur und ihre Gleichsetzung mit Fortschritt heutzutage geradezu bizarr klingen: „… bei der Ausbeutung der Natur gewinnen nur einige wenige … Was der Fortschritt aller sein könnte, wird zum Vorsprung weniger“. Systematisch gesehen, wirft ein konträres Argument ein Mehr an Kohärenz in die Waagschale: Jene Logik, die im Dienst einer instrumentellen Vernunft die „Ausbeutung und Unterwerfung der Natur“ wissenschaftlich organisiert, ist mit jener identisch, die Herrschaft und Kapitalisierung im Bereich des Sozialen festschreibt.
     Erst die Forderung nach symmetrischer Teilhabe sowohl in bezug auf die Gesellschaft als auch auf den Planeten stellt den Hegelianer Brecht vom Kopf auf die Füße: Der Verkehr mit den menschlichen wie nichtmenschlichen Erdbewohnern ist von einem wissenschaftlichen Theater des 21. Jahrhunderts miteinander zu korrelieren. Nur in Assoziation mit jener großen Transformation, die auf einem ökologisch adäquaten Umgang mit den Parametern insistiert, läßt sich die soziale „Hardware“ neu konfigurieren. Ohne Herstellung dieser Symmetrie aber bleiben beide Seiten des Subjekt-Objekt-Verhältnisses bloße Ressource: Humankapital und Verfügungsraum.
     Auf den Trümmern des epischen Wissenschaftstheaters stellt sich die Frage, wie sich das Außen darstellt, wenn die traditionellen Objekte ihren Ressourcencharakter abstreifen. Wie lassen sich in bezug auf den Planeten mitsamt seinen nichtmenschlichen Entitäten und Präsenzen kognitive Operationen durchführen, die nicht dem Geist der Naturbeherrschung unterstehen, sondern ihnen ein „Agency“ genanntes Surplus attestieren, ohne das wissenschaftliche Denken aufzukündigen? Auf welchem epistemologischen Fundament wäre ein Theatermodell zu gründen, das die Verlagerung von einer politischen Ökonomie hin zu einer politischen Ökologie ästhetisch einlöst und somit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist?

(…)

Das Kategoriensystem, auf das Brecht bei der Bestimmung der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft als Fundament seiner Bühne rekurriert, projiziert die gesellschaftlich-immanente Ausbeutung auf die Natur, deren Konstrukt weder auf horizontaler noch vertikaler Ebene eine Verbindung, ein „Band“ (Humboldt) oder eine „Proportion“ (Latour, Haraway) zum Außen der Gesellschaft kennt. Um ein Terrain für das analytische Theater zu gewinnen, muß Brecht planvoll jene Verbindungslinien trennen, aus denen die Schauspielkunst historisch erwachsen ist: als eine aus dem Kult hervorgegangene gesellschaftliche, wie auch eine mit Tieren und Pflanzen, mit Toten und Landschaften verwobene Verkehrsform. Sein analytisches Bühnenbesteck sterilisiert Brecht, indem er systematisch alle vorwissenschaftlichen Sichtweisen aus seinem Repertoire eliminiert. Mittels einer Rhetorik der schwarzen Romantik wird ein Jenseits des sozialen Theaterlabors verfemt, die Säuberungen der Apparaturen von irrationalen Residuen als unumgänglich postuliert. Geschichtlich kann sich dieses Vorgehen auf Platon berufen. Der griechische Philosoph hatte sich dafür eingesetzt, den symbolischen Haushalt von kultischen Nachwirkungen und Überresten der Praktiken jener „góes“ genannten Hexenmeister zu reinigen, welche durch Mythos und Theater zur Vergiftung des politischen Klimas beitragen. Insbesondere das Verfahren der „Einfühlung“ wird als Technik identifiziert, die verhindert, daß die Theaterleute „ihre ungenauen Abbildungen auf weniger magische Weise anbringen“. Deren Wirkung ist politisch fatal, dient sie doch dazu, die „Kinder des wissenschaftlichen Jahrhunderts … in eine eingeschüchterte, gläubige, gebannte Menge zu verwandeln“. Indem Einfühlung die Distanz zwischen Betrachter und Bühne aufhebt, verhindert sie jene Analytik der zwischenmenschlichen Verhältnisse als Voraussetzung einer Transformation des Sozialen. Aufgrund des magischen Erbes der darstellenden Kunst werden identifikatorische Vorgänge verdächtigt, aufklärende Inhalte zu neutralisieren und durch Außerkraftsetzung der distanzierten Reflexion regressive Tendenzen zu befördern. Das Wie, die Art und Weise des Transports, lähmt die Entwicklung und eine Modernisierung der Affektstrukturen: „Die Empfindungen, erzeugt auf die alte (die magische) Art, mußten selber alter Art bleiben.“ Durch die vormoderne Form der Präsentation bevölkern statt aktiver Zuschauersubjekte, die das Dargebotene kritisch begutachten, passive Objekte das Parkett, in die sich überkommene Haltungen einschreiben: „Gehen wir in eines dieser Häuser und beobachten wir die Wirkung, die es auf die Zuschauer ausübt. Sich umblickend, sieht man ziemlich reglose Gestalten in einem eigentümlichen Zustand: Sie scheinen in einer starken Anspannung alle Muskeln anzuspannen, wo diese nicht erschlafft sind in einer starken Erschöpfung. Untereinander verkehren sie kaum, ihr Beisammensein ist wie das von lauter Schlafenden, aber solchen, die unruhig träumen, weil sie, wie das Volk von Alpträumern sagt, auf dem Rücken liegen. Sie haben freilich ihre Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, sondern lauschen. Sie sehen wie gebannt auf die Bühne, welcher Ausdruck aus dem Mittelalter stammt, der Zeit der Hexen und Kleriker.“ Der Betrachter wird durch diese „Inkubusgewohnheiten“ von sich getrennt, so daß er nicht imstande ist, sein Schicksal selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Da das ererbte Gelände des Theaters durchweg kontaminiert ist, muß dessen Kunst neu konstituiert werden. „Wie lange noch sollen unsere Seelen im Schutz der Dunkelheit die plumpen Körper verlassen, eindringen in jene traumhaften oben auf dem Publikum“, lautet jener Appell, der eine grundlegende Revision dieser Praxis im Kleinen Organon einleitet.
     Diese Polemik richtet sich keineswegs gegen mittelalterliche Mysterienspiele, sondern gegen die Tragödie in Gestalt jener Beschreibung, welche die Poetik des Aristoteles liefert. Brecht spricht sich gegen die Katharsis aus: Sein Theater will Denkprozesse in Gang bringen und nicht Affektstrukturen modellieren: „Wir bezeichnen eine Dramatik als aristotelisch, wenn diese Einfühlung von ihr herbeigeführt wird, ganz gleichgültig, ob unter Benutzung der von Aristoteles dafür angeführten Regeln oder ohne deren Benutzung.“ Die Einfühlung ist Ausdruck einer spirituellen Haltung und daher einer aufgeklärten Kultur schädlich. „[Es] spricht also nichts dafür, daß die Einfühlung ihren alten Platz wieder erhält, sowenig wie die Religiosität, von der sie eine Form ist.“ Brecht hält einen Abschied von bestimmten Darstellungs- und Verfahrensweisen aufgrund ihrer Abstammung aus dem sakral-kultischen Bereich für unverzichtbar, weil eine angeblich okkult oder magisch grundierte Mechanik der Identifikation jenen Fortschritt blockiert, den eine auf Distanz basierte Bühne affektiv wie kognitiv generiert.
     Indem Brecht das wissenschaftliche Theater gegenüber der Metaphysik radikal verschloß, entkoppelte er seine Kunst zugleich von einer Vielzahl ästhetischer Überlieferungen. Das Verdikt richtet sich gegen das realistische Einfühlungstheater eines Konstantin Sergejewitsch Stanislawski wie auch gegen Mythos und Tragödie und reicht bis hin zu Kafka und den Surrealisten, inklusive deren Theaterexponenten Antonin Artaud, einem Gegenspieler Brechts, der verfemte Begriffe wie „Alchemie“ und verwandte Termini in seiner Grammatik positiv konnotiert.
     Radikalisiert wird jene Kernoperation, welche die Bühne vollzog, als sie die kultischen Zusammenhänge verließ: „Wenn man sagt, das Theater sei aus dem Kultischen gekommen, so sagt man nur, daß es durch den Auszug Theater wurde; aus dem Mysterium nahm es wohl nicht den kultischen Auftrag mit, sondern das Vergnügen daran, pur und simpel.“ Während der Tempel der tragischen Muse Melpomene geschliffen wird, soll allein Thalia, die Muse der Komödie, Brechts Theaterbau schultern. Aus dem Bemühen der theatralischen Logik, die magische Grundierung auszutreiben, entsteht eine theatergeschichtliche Schieflage. Brechts Programm, den kultischen Urgrund des Theaters zu liquidieren, hält Roberto Calasso aus prinzipiellen Gründen für unmöglich: „Das epische Theater Brechts wollte den Zauber des Theaters ausmerzen. Doch der Zauber ist kein Tatbestand, der sich dem Theater unter besonderen historischen Umständen hinzugesellt hat und der deshalb durch den Gebrauch verschiedener Verfahren ausgeräumt werden kann. Der Zauber ist etwas, das dem Theater innewohnt.“ (Die neunundvierzig Stufen) Die mimetischen Nachahmungen bezwecken Wirkungen. Sie spiegeln oder beschreiben nicht Gegebenes oder Vergangenes, sondern sind auf Beeinflussung des Kommenden angelegt. Noch jede Inszenierung, die das Bestehende zur Disposition stellt, rekurriert auf diesen Mechanismus.

(…)

Wird Tieren oder Entitäten wie Landschaften ein Subjektstatus zuerkannt, dann ist zu klären, über welche Mittel beispielsweise ein Wald verfügt, „seine Interessen zu artikulieren“, so der Schriftsteller Amitav Ghosh. Der indische Autor veranschaulicht an der vertikalen Dimension der Entitäten, die – alles andere als bloße Ressourcen – maßgeblich am Terraforming unseres Planeten beteiligt sind, daß nur die Wissenschaften deren Rolle bezüglich der planetarischen Vorgänge erhellen können. Jede noch so intime Kenntnis der einzelnen Akteure und über Jahrhunderte entstandenen Erzählungen davon, zum Beispiel über die Mangrovenwälder der Sundarbans im Golf von Bengalen, ist unzureichend, um deren Funktion im erdgeschichtlichen Gesamtzusammenhang zu extrapolieren: „Diese Lücken füllen die Naturwissenschaften, insbesondere die deskriptiven Disziplinen, die man als ‘Naturgeschichte’ bezeichnet hat: Zoologie, Botanik, Geologie und so fort. Diese Wissenschaften richten einen konzentrierten Blick interpretierender Prüfung auf den Vorhang von Zeichen, den man Daten nennt. Die Naturgeschichte ist in diesem Sinne die unentbehrliche Interpretationswissenschaft, die es der Umwelt gestattet, zu uns zu sprechen.“ (Ghosh, „Wildnis­fiktionen“, LI 83, 2008)
     Der Nebel in dem durch den Diplomaten und das metaphysische Experiment abgesteckten Feld lichtet sich, sobald die Beziehungen der Kunst zum Reich der Aktanten in den Blick genommen werden. Mit platonischer Vehemenz grenzt sich Latour gegen eine Rückkehr zu mythopoetischen Breitengraden ab. Keineswegs soll der Leser „in eine Fabel entführt“ und in eine Perspektivierung der Welt eingebunden werden, „in der Tiere, Viren, Sterne gleich Zauberstäben, Elstern und Prinzessinnen zu plappern anfangen“. Auch soll nicht „die alte Metaphysik der Objekte und Subjekte durch eine ‘reichere’ Vision des Universums, in dem Mensch und Dinge als Poeten sprächen“, ersetzt werden. Statt dessen bringen die vernetzten Aktanten „jene zum sprechen, die sich um sie herum scharen und miteinander über sie reden“. Die technologische Entwicklung soll dafür sorgen, „daß es Millionen subtiler Apparaturen gibt, durch die neue Stimmen ihren Diskussionsbeitrag leisten können“, die Verkoppelung mit der Technosphäre gewährleisten, daß das Sagen der Wirkmächte unauflösbar mit der Stimme der Wissenschaften verbunden ist. Auf den Spielfeldern einer experimentellen Metaphysik sollen statt artistischer Sensorien ausschließlich die mit der Technosphäre verbundenen Organe der Wissenschaft zum Zuge kommen, womit die diplomatischen Verhandler offenbar in Konkurrenz zu Künstlern stehen. Eine Rivalität, die nicht zufällig an Konfrontationen in Platons idealem Staat erinnert, aus dem die mythopoetischen Kräfte eliminiert werden sollten, um die Wahrheitsoperatoren und die in ihrem Namen exekutierte Politik nicht zu verschmutzen.
      Eine Epistemologie, die statt mit Subjekt und Objekt mit Akteuren und Wirkmächten umgeht, gerät zum Plädoyer für eine Einverleibung und Entmachtung des mythopoetischen Territoriums. Die Naturmächte, die im Mythos regierten, werden durch die Einbindung der Aktanten in ein Netzwerk aus Forschungsstationen, Wissenschaftsinstitutionen, Satelliten und Simulationen und dergleichen Prothesen, Bestandteile des Sozialen.
     Naturentitäten, bei denen es sich, wie bei Wäldern und Flüssen, um hybride, von menschlicher Aktivität mitgeformte Konstrukte handelt, werden „von der komplexen Ausrüstung der Laboratorien nach und nach sozialisiert“. Dabei beginnen sich humane Subjekte mit „anderen sozialen Akteuren“ unauflösbar zu verflechten. Diese technische Sozialisation der Quasisubjekte sorgt dafür, daß sie sich in der Sprache der Wissenschaft äußern.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.