LI 94, Herbst 2011
Glücksmaschine Theater
Von der Kostbarkeit der Kunst, vom Tragischen und vom Prinzip TrotzdemElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
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Textauszug
(…) FRANK M. RADDATZ: Ist Kunst nicht von Offenheit, von Mehrdeutigkeit gekennzeichnet, während die Religion als geschlossenes System Eindeutigkeit beansprucht und vorgibt, über endgültige Erklärungen zu verfügen?
PETER STEIN: Die fanatische Sucht der Menschen gilt der Sinnsuche. Die Religion gibt ihm Antworten. Dieser Suche nach Sinn steht zum Beispiel die zentrale Aussage der Tragödie diametral entgegen: „Das alles hat überhaupt keinen Sinn. Die menschliche Existenz ist sinnlos und paradox.“ Heute ist der allgemeine Tenor, daß es eben keinen Sinn gibt. Das wird einem auch von Kunst immer wieder vermittelt. Falls überhaupt ein Sinn existiert, dann der eines ewigen Entstehens und Vergehens. Trotzdem läßt jene Kunst, welche die Sinnlosigkeit proklamiert, plötzlich Sinn aufblitzen, indem sie das Disparate, das Fragmentarisierte und Auseinanderfallende ineinanderschiebt. Ich will damit nicht ein „Prinzip Hoffnung“ neu begründen. Das wäre zu optimistisch. Was uns jedoch antreibt, ist ein „Prinzip Trotzdem“. Obwohl wir wissen, wie es mit uns bestellt ist, daß wir zum Tod geboren sind usw., machen wir weiter. Daraus entsteht eine unglaubliche Kraft. Wenn wir uns hinreichend klarmachen, daß wir zum Tod geboren sind und uns dieses Paradox mit aller Kraft vor Augen führen und trotzdem weitermachen, dann kann, was Anlaß zu Depressionen und Verdrängung bietet, zur unendlichen Kraftquelle werden. Das ist cool und nicht uncool.
Das Großartige besteht darin, daß man weiß: Auf der Bühne erzählen Schauspieler, bezahlte Angestellte, eine Geschichte, deren Autor Aischylos heißt. Trotzdem bekommt man das Gefühl, der Schauspieler erfindet seinen Text in diesem Augenblick. Das ist der mystische Moment, in dem man mit vollem Recht sagen kann: „Ich bin Aischylos begegnet und habe mit ihm einen Dialog geführt. Er hat zu mir gesprochen, und ich habe rezipierend geantwortet.“ Das Theater eröffnet uns das Mysterium, daß man mit anderen Zeiten, mit den Toten in Kontakt treten kann. Die Figuren und Autoren müssen nicht einmal gestorben sein. Ich kann mich auf diese Weise auch mit Botho Strauß in Verbindung setzen. Auch wenn er nicht persönlich anwesend ist, ist er in Form der Schauspieler präsent. Das ist das Wunderbare.
(…)
Wie ist es denn um den Ursprung des Theaters bestellt? Wie kommt es zu diesem im Mittelmeerraum wie auch in der gesamten Weltkultur einzigartigen Phänomen?
Der Ursprung der griechischen Tragödie ist Teil eines Urknalls in der menschlichen Kulturgeschichte, wie man ihn sich dramatischer kaum vorstellen kann. Dieser Big Bang fand nicht nur im Theater statt, sondern zeitnah wird die Geschichtsschreibung erfunden, werden die Grundlagen der Naturwissenschaften gelegt und wird die Demokratie entwickelt.
Wie in allen archaischen Gesellschaften wurde auch in Athen die Kultur in erster Linie über die rituelle Tätigkeit der Menschen organisiert. Das Ritual besteht in einer mimischen Tätigkeit mit der Absicht, auf einen Zusammenhang magisch einzuwirken. Eines der einfachsten Rituale ist der Regentanz. Ein Mensch, der ganze Stamm oder eine besonders bewegliche Minderheit, die jederzeit durch den gesamten Stamm ergänzt werden kann, vollzieht eine Aktivität, die zumeist mit Gesang oder Schreien verbunden ist sowie mit rhythmischen, also tanzenden, und zum Teil auch mimischen Bewegungen. Heute sagen wir: „Ein Regentanz ist völliger Mumpitz!“ Aber das ist falsch. Aus dem einfachen Grund: Der Regen kommt irgendwann. Diese Regentänze zeitigen also immer Erfolg.
Diese Riten haben magischen Beschwörungscharakter und beschreiben zugleich ein Naturphänomen. Zudem besitzen sie einen belehrenden Aspekt: Es wird gezeigt, wie man den Acker bearbeiten muß; daß man fertig sein muß, wenn der Regen kommt usw. Solche Rituale gibt es für alle wesentlichen Angelegenheiten des Lebens. Berühmt sind die Jagdrituale, wo Tier und Jäger nachgeahmt werden, also zwei Parteien. Mit diesen gegensätzlichen Rollen ist man schon nah am Theater. Zudem dienen die Rituale der Selbstverständigung: Wir sind die einen, und das sind die anderen. Kulturhistorisch kommt hinzu, daß die Einwanderungswellen in die griechischen Täler unglaublich schnell zu Seßhaftigkeit und Stadtbildung führen, was bedeutet, daß die Riten einer Agrargesellschaft in einen städtischen Kontext übertragen werden müssen. Gewisse Rituale der Identitätsbestimmung der Stammesgesellschaften, des „Wir sind wir“, formen sich dabei zu einer Art Bänkelsang, der oralen Vermittlung von Geschichten, in denen mitgeteilt wird, wie die Stadt Athen entstanden ist. Von Anfang an ist der Gründungsmythos der Stadt neben den Geschichten der Götter rituell eingebettet. Diese religiösen und mythologischen Teile der Rituale werden während verschiedener Feste erzählt, welche die Funktion haben, die Identität der Polisgemeinschaft zu festigen. Es gibt Erzählungen über den Ursprung Athens, mythische Erzählungen usw. in chorischer Form, und zugleich wurde die Sau rausgelassen und die existierende Ordnung auf den Kopf gestellt. Das Satyrspiel erinnert daran, daß die Tragödie aus den rituellen Tätigkeiten einer Festkultur stammt, die wir als Karneval kennen. Zu diesem Anlaß verkleidete man sich vor allem als Tiere, die besonders lange Schwänze haben, besonders fruchtbar und geil sind wie zum Beispiel Ziegenböcke. Die Tänze waren sehr eindeutig. Eine Art lap dance, wo alle möglichen Varianten kollektiver Kopulation vorgeführt werden. Das waren die sogenannten „Bockstänze“. Später wird dieser Ausdruck auf die griechische Tragödie angewandt und stiftet durch seinen falschen Bezug viel Unheil.
Die rituelle Tätigkeit der Stadt Athen bringt eine komplexe Ordnung hervor, die auf dem Land noch nicht nötig war. Die zehn eingewanderten Stämme gliedern sich in zehn Stadtteile auf, die alle zu berücksichtigen sind. Entsprechend muß das Chaos dieser Feste geordnet werden. Und dabei kommt der Einführung der Schrift im 7. Jahrhundert vor Christi entscheidende Bedeutung zu. Durch die Verbindung des rituellen Treibens mit der Schrift entstand allererst die Tragödie. Das war der Schritt, der eine Entwicklung einleitete, die auf der ganzen Welt einmalig ist. Ein Quantensprung. Heute will man den Text abschaffen und schafft damit, ohne es zu wissen, die Tradition des europäischen Theaters ab. Daß das Theater mit dieser gigantischen Masse von Text belastet wird, soll sich als geniale Erfindung erweisen. Dadurch setzt das europäische Theater den Weltmaßstab. Nur ein textbasiertes Theater ist tradierbar, übersetzbar, exportierbar und ermöglicht die Entstehung der europäischen Theaterkultur, die von anderen Kulturen, von anderen Epochen ohne die Überlieferung spezieller schauspielerischer Darstellungstechniken übernommen werden kann. Deswegen spielt man in Japan heute Shakespeare, aber im Westen kein No-Theater. No basiert eben nicht auf Text, sondern auf mündlicher Überlieferung. Wir kennen das von der Commedia dell’arte. Ein Schauspieler erzählt dem nächsten, wie man die Beine setzt, wie man bestimmte Sprünge macht usw. Ein reines Improvisationstheater. Erst Goldoni überführt dieses Stegreiftheater in Texttheater.
Der Ritus entspricht der schriftlosen Kultur, während seine Alphabetisierung zur Tragödie und damit zum europäischen Theater führt.
(…) Die Verschriftlichung nimmt dem griechischen Mythos das Lebendige, indem sie ihn fixiert und jeglicher Beweglichkeit und Veränderbarkeit beraubt. Sie macht die Produkte der oralen Kultur allererst kontrollierbar und hat dadurch etwas Zwiespältiges. Mittels der Schrift greifen die Tragiker ordnend in den kollektiven rituellen Prozeß ein. Die Autoren sind ihre eigenen Regisseure und schreiben die Texte bereits mit der Vorstellung, wie sie das Ganze später arrangieren. Natürlich behält der Schreiber den Chor bei, aus dem das Ganze entsteht. Dazu kommt der Schauspieler, dessen Text diese schriftliche Ordnung festlegt. Er bekommt einen Gegenspieler, einen zweiten Schauspieler, als Gegenüber. Damit ist der Konflikt situiert, der jeder Art von Darstellung in der Kunst zugrunde liegt. Das Theater beginnt mit dem Grundkonflikt zwischen Leben und Tod. Noch vor dem Kampf der Geschlechter zwischen Mann und Frau oder der Rivalität zwischen Mann und Mann. Der Urkonflikt zwischen Leben und Tod ist universal, weil er jeden und die gesamte Gemeinschaft betrifft.
(…)
Was ist Ihr Ziel beim Inszenieren? Wollen Sie Glück herstellen?
Natürlich soll das Theater Glück schaffen. Seine Aufgabe besteht darin, zu vermitteln, daß das Leben wert ist, gelebt zu werden. Das Leben ist hochinteressant, auch wenn es in Situationen voller Verzweifelung führt. Das tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil. Das Theater läßt einen an vergangenen Emotionen partizipieren, auch von Leuten, die pervers sind oder einem völlig wesensfremd. Ich beziehe das nicht nur auf die Antike. Ich habe auch mit großem Spaß zeitgenössische Dramatik inszeniert. Immer in dem Bewußtsein, daß wir Theaterleute keine Künstler, keine Schaffenden im eigentlichen Sinne sind. Wir sind rekreative Secondhandkünstler. Auch die Schauspieler. Wir schaffen nichts, wir erschaffen nur etwas wieder. Wenn man die hochfahrende Meinung hat, man sei selber ein Originalgenie, macht man sich am Theater nur lächerlich, denn es handelt sich um eine kollektive Kunstform. Alle müssen an der Sache beteiligt sein, und weil das nicht mehr passiert, berührt mich das alles nicht mehr tief.
Inszenieren selber ist nicht schwer. Man muß nur zwei Sachen berücksichtigen: Erstens, daß man selber nichts ist. Man ist Zuschauer. Man ist bezahlter Zuschauer, und zwar der erste, den die Schauspieler haben. Deswegen muß der Blick des Regisseurs den Schauspielern zugewandt sein. Ganz egal, wie die eigene Persönlichkeitsstruktur aussieht, der Blick muß von unten nach oben gehen. Anhimmelnd oder staunend. Das muß ein Regisseur können und dabei ganz ruhig werden. Sonst kann er hysterisch sein, Kokain nehmen, saufen, ganz egal.
(…)
Diesen zuwendenden Blick muß man besitzen und die Fähigkeit, am Ende alles an die Schauspieler zu übergeben. Am Tag der Premiere muß man sich verabschieden. Wenn man auf der Bühne noch spürbar ist, ist man gescheitert. Dann stellt sich das Wesentliche des Theaters nicht her.
Das Regietheater verspürt den merkwürdigen Zwang, Geschichte einzuebnen und eine unendliche Gegenwart zu postulieren. Dabei wird die eigene Epoche – und das ist eine bürgerliche Strategie – als Index aller Zeiten ausgegeben. Als ästhetisches Verfahren wird damit eine Allgegenwart hergestellt, welche die Allgegenwart Gottes im Bild des autonomen Künstlers als Krone des autonomen Menschen kopiert. Jeder andere Gestus wird als museal abgetan. Dabei wäre doch die Frage, wie den Museen das geschichtlich Lebendige entrissen werden könnte.
Wenn wir die Texte willkürlich modernisieren, brechen sie auseinander, weil ihre Geschichten auf anderen Realitäten beruhen. Aber genau die sind das Interessante. Wir wollen doch Geschichten hören, die mit uns nichts zu tun haben. Wir wissen doch, wie es heute aussieht. Deswegen wollen wir andere Geschichten hören, die Räume eröffnen, die uns fremd sind, aber auch interessant, mitunter exotisch erscheinen usw. Wenn dann jemand erkennt: „Das sind ja genau dieselben Probleme, mit denen ich auch zu tun habe!“, tritt der Effekt ein, den man als wirkliche Aktualisierung bezeichnen kann. Wenn man dem Publikum diesen Vorgang raubt, ist man ein Verbrecher. Dazu hat sich bereits Kortner geäußert.
Das hat auch nichts mit einem Literaturmuseum zu tun. Ich arbeite daran, daß man große Kunstwerke erleben kann. Ich mache sie lebendig. Das als Archäologie zu bezeichnen ist eine Unverschämtheit. Ein Archäologe macht die Zeit, mit der er sich beschäftigt, nicht erlebbar. Ihm stehen die Verlebendigungsapparate gar nicht zur Verfügung, sondern er legt seine Beobachtungen in Zeichnungen, Photographien und in Kommentaren nieder, die mausetot in Folianten darauf warten, daß sie jemand wachküßt. Er kann seine archäologischen Entdeckungen nicht austanzen. Aber wir können diese Gebilde mit unserem Leben erfüllen. Das geht aber nicht, indem wir diese Welten modernisieren, denn dann bricht das Ganze auseinander, weil die Geschichten selber auf anderen Grundlagen beruhen. Das interessante sind doch gerade Geschichten, die mit uns nichts zu tun haben. Ich will doch nicht hören wie es heute aussieht. Das weiß ich durch Film, Fernsehen, Rundfunk, Zeitung und aus eigener Erfahrung. Ich will andere Geschichten hören oder durch andere Geschichten, die ganz fantastisch anmuten, Räume eröffnen, die ich bisher nicht betreten habe, die uns bislang verschlossen waren.
(…)