LI 132, Frühjahr 2021
Das Lächeln Bergoglios
Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – Eine KarriereElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Joachim Kalka
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Textauszug
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Provinzial und Rektor
Der schwerstwiegende Vorwurf gegen Bergoglios Verhalten im Schmutzigen Krieg zog während des Konklaves 2005 eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich, als er bei der Papstwahl nach dem Tod von Johannes Paul II. der wichtigste Konkurrent von Joseph Ratzinger war. Im Mittelpunkt standen die Verhaftung und Folter von zwei Jesuitenpriestern, Orlando Yorio und Franz Jalics. Bergoglio kannte beide seit Beginn der sechziger Jahre – sie waren seine Lehrer gewesen. Als Bergoglio als Provinzial für Argentinien und Uruguay eingesetzt wurde, waren die beiden Männer mit dem liiert, was Ivereigh „das postkonziliare jesuitische Chaos“ nennt; sie wohnten nicht in einer Jesuitenresidenz, sondern in einem Armenviertel, in einer Gemeinschaft, welche, mit Ivereighs Worten, „ein avantgardistisches Experiment in nichthierarchischem, politisch engagiertem Leben“ darstellte. Im Februar 1976 teilte Bergoglio ihnen mit, sie müßten die Gemeinschaften, welche sie begründet hatten, auflösen und in eine Jesuitenresidenz umziehen. Sie beschlossen, zu bleiben, wobei sie das beträchtliche Risiko eingingen, vom Regime als politische Aktivisten behandelt zu werden. Im Mai wurden vier Katechetinnen, die mit ihnen zusammengearbeitet hatten, entführt und nie mehr gesehen. Der Bischof der Diözese untersagte ihnen, die Messe zu lesen. Als sie sich an Bergoglio wandten, sagte dieser, sie könnten die Messe privat zelebrieren. Eine Woche später wurden die beiden Männer entführt, man glaubte: von der Marine.
Sie blieben fünf Monate in Haft, mit verbundenen Augen und in Handschellen. Eine gerichtliche Untersuchung stellte 2010 fest, daß ihre Entlassung „die Folge einer Reihe von Schritten war, welche der religiöse Orden unternommen hatte, dem sie angehörten, und des Interesses, das führende Mitglieder der katholischen Kirche an ihnen nahmen“. Hierzu gehören zwei Treffen Bergoglios mit Massera. Das zweite war, mit Bergoglios Worten, kurz und häßlich; es habe damit geendet, daß Bergoglio kategorisch sagte, er wolle, daß die beiden Priester freigelassen würden. Er traf auch Videla zweimal, wobei die zweite Begegnung nur zustande kam, weil er den Priester, der für den General die Messe las, gebeten hatte, sich krank zu melden, so daß Bergoglio selbst an dessen Stelle kommen konnte. Videla war herzlicher und umgänglicher als Massera.
Nachdem die beiden entlassen worden waren, begann insbesondere Yorio, Fragen zu Bergoglios Verwicklung in den ganzen Vorgang zu stellen; er behauptete, der zukünftige Papst habe das Gebäude aufgesucht, wo er und Jalics festgehalten wurden. Diese Behauptung, schreibt Jimmy Burns, „wurde nie bestätigt“. Als Bergoglio 2013 mit den Verfassern seiner autorisierten Biographie sprach, sagte er lediglich: „Glücklicherweise wurden sie dann später freigelassen, einmal, weil sie [das Regime] nichts finden konnten, was ihre Vorwürfe bestätigte, und zweitens, weil ich noch an demselben Abend, als ich von ihrer Verhaftung erfuhr, anfing, zuzusehen, was ich für sie tun konnte.“ Interessant ist hier der Halbsatz: „weil sie nichts finden konnten, was ihre Vorwürfe bestätigte“, als hätte sich die Marine unter Massera jemals die Mühe gemacht, Beweise zu prüfen oder juristisch einwandfrei vorzugehen. Yorio behauptete (wie Ivereigh schreibt), Bergoglio hätte „tatsächlich seinen Namen auf eine Liste gesetzt, die er seinen Folterern gab“, aber auch hierfür gibt es keinen Beweis. „Es ist absolut falsch, zu sagen, Jorge Bergoglio habe diese Priester ausgeliefert“, sagte einer der Richter am Ende der Untersuchung 2010. „Wir haben diese Version gehört, wir haben das Beweismaterial analysiert, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß seine Handlungen in diesem Falle keinerlei rechtlich relevante Rolle gespielt haben.“
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Gleich nach der Wahl Bergoglios zum Papst schrieb der Generalobere der Jesuiten einen Brief an alle Mitglieder des Ordens weltweit, in dem er sagte, jetzt sei nicht die Zeit, „daß wir uns von Kontroversen der Vergangenheit ablenken lassen“.
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In den Notizen, die er während seines Exils niederschrieb, finden sich indirekte Rechtfertigungen seiner Handlungsweise während des Schmutzigen Krieges. Er glaubte, gewisse Probleme hätten keine menschlichen Lösungen, und „tiefinnerliche Machtlosigkeit“ auferlege den Menschen „die Gnade des Schweigens“. In einem Abschnitt, der den Titel „Gottes Krieg“ trägt, bemerkte er, daß es oft Zeiten gebe, da, mit Ivereighs Paraphrase zu reden, „Gott gegen den Feind der Menschheit in die Schlacht zog, und es wäre ein Fehler, sich hier einzumischen“.
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Charisma und Einsamkeit
Bergoglio war 76, als sich Papst Benedikt 2013 von seinem Amt zurückzog. „Keiner, der bei einer Papstwahl auf den zweiten Platz gekommen ist“, schreibt Ivereigh, „ist jemals beim nächsten Konklave gewählt worden.“ Da Ratzinger altershalber schied, nahm man ohnehin an, daß nun ein sehr viel jüngerer Papst gewählt würde. Es schien also unwahrscheinlich, daß Bergoglio diesmal die Wahl gewinnen würde, doch – wie Ivereigh ebenfalls festhält – „Bergoglio stellte eine nur einmal pro Generation auftauchende Kombination zweier selten zusammenkommender Eigenschaften dar: Er besaß das politische Genie eines charismatischen Führers und die prophetische Heiligkeit eines Wüsteneinsiedlers.“ Es sprach auch sonst viel für ihn: Er war kein Theologe, insofern könnte man seinen Einfluß leicht untergraben; er war nicht homosexuell und hatte deshalb wahrscheinlich keinen klaren Begriff von der Heimlichkeit, die im Vatikan den Sexus umgab; tatsächlich besaß er überhaupt keine nähere Bekanntschaft mit all den Prozeduren im Vatikan und wäre insofern wohl leicht zu verwirren. Es sprach auch für ihn, daß er seit über zwanzig Jahren keine enge Bindung mehr an die Jesuiten hatte und deshalb nicht unter ihrer Kontrolle stehen würde; daß er große pastorale Erfahrung besaß; daß er die Finanzen seiner Diözese klug und geschickt stabilisiert und verwaltet hatte; daß er der argentinischen Regierung in sozialen und ökonomischen Fragen offen entgegengetreten war; daß er mit Führern anderer Religionen befreundet war; daß er um sich her eine Aura der Demut geschaffen hatte. Und es muß unter den Kardinälen ein paar unerschütterliche Veteranen gegeben haben, die nicht unbeeindruckt waren von der Art und Weise, wie er sich während des Schmutzigen Kriegs verhalten hatte.
Die Wahl zum Papst ließ Bergoglio fröhlich werden – er wußte, daß niemand einen strengen, säuerlichen alten Papst wollte. Wie er sich 1992 der Stimmung des Augenblicks angepaßt hatte, als er bei seiner Rückkehr nach Buenos Aires als Erzbischof demütig wurde, so begann er nun zu lächeln und sich lebhaft zu gebärden. Gleich nach der Wahl fuhr er mit anderen Kardinälen zusammen in einem Bus anstatt in der Limousine. Er ging selbst in das Hotel, wo er gewohnt hatte, um seinen Koffer abzuholen und die Rechnung zu bezahlen. In seiner ersten päpstlichen Predigt zitierte er, wie Ivereigh berichtet, starken Tobak „von dem radikalen französischen Konvertiten Léon Bloy, den er mit seinen Freunden in der Eisernen Garde in den siebziger Jahren gelesen hatte: ‘Jeder, der nicht zu Gott betet, betet zum Teufel.’“
Der neue Papst wurde von Georg Gänswein, der Ratzingers persönlicher Sekretär und Präfekt des päpstlichen Haushalts war, in seine üppigen Gemächer geführt. „Als Gänswein nach dem Lichtschalter tastete“, schreibt Ivereigh, „fand sich Franziskus in einem goldenen Käfig.“ Er „beschloß in diesem Augenblick, in der Santa Marta wohnen zu bleiben“ – dort, wo die Kardinäle während des Konklaves untergebracht gewesen waren. Am selben Tag sagte er persönlich einen Zahnarzttermin in Buenos Aires ab und kündigte sein Zeitungsabonnement. All dies geriet in die Nachrichten, und zusammen mit seinem Lächeln und dem unprätentiösen „buona sera“, mit dem er auf dem Balkon von St. Peter erschienen war, machte es ihn zu einer Figur der Informalität, der Demut und gutmütigen Fröhlichkeit.
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Jeder, der eine gewisse Zeit im Vatikan verbracht hat, wird bei Bergoglios Satz zur Frage der Schwulen in seinen Mauern: „Es heißt, es gäbe einige dort“, ironisch lächeln. Vor zwei Jahren hat Frédéric Martel, ein französischer Journalist, ein Buch über die Schwulenszene im Vatikan veröffentlicht, das den Titel „Sodoma“ trägt und in der englischen Übersetzung den Untertitel „Power, Homosexuality, Hypocrisy“ hat. Zu den vielen Menschen, die Martel für sein Buch in dreißig Ländern interviewte, gehörten 41 Kardinäle, 52 Bischöfe und Monsignori und 45 apostolische Nuntii. Christopher Lamb, der römische Korrespondent des Tablet, nannte das Buch „eine riesige Operation, finanziert von einem Konsortium von Verlegern, mit dem Ziel, die kirchliche Heuchelei in der Schwulenfrage zu enthüllen …
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Das Buch schickt sich an, nachzuweisen, daß fast jeder, der im Vatikan lebt, schwul ist, und Martel arbeitet eine Reihe verschiedener Möglichkeiten heraus, wie sich Homosexualität hier kategorisieren läßt. Er fragt die Strichjungen Roms nach ihren Erfahrungen mit Priestern, Bischöfen und Kardinälen. Er interviewt auch viele Kirchenfürsten, und wo es möglich und angemessen ist, beschreibt er ihre Badezimmer und das erlesene Dekor ihrer Wohnungen. Manche leben zölibatär; manche bedienen sich zu ihrem Vergnügen hübscher Seminaristen; manche leben mit ihren sogenannten Sekretären oder Chauffeuren oder Dienern zusammen; andere belästigen die Schweizergarde. In Martels Darstellung ist der Vatikan ein einziges Treibhaus sexueller Freuden und Intrigen. „Im Vatikan sitzt eine der größten schwulen Gemeinschaften der Welt, und ich bezweifele, daß es selbst im Castro-Viertel von San Francisco … derart viele Schwule gibt!“
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Die Idee, daß es in den hohen Rängen der Kirchenhierarchie Homosexuelle gibt, die Angst davor haben, bloßgestellt zu werden, liefert Martel eine weitere seiner Regeln für die katholische Heimlichkeit: „Hinter der Mehrzahl der Fälle von sexuellem Mißbrauch stehen Priester und Bischöfe, welche die Täter beschützt haben – wegen ihrer eigenen Homosexualität und aus Angst, diese könnte im Falle eines Skandals enthüllt werden.“ Martel bemerkt, daß Bergoglio bei vielen Fraktionen der vatikanischen Homosexuellen unbeliebt ist. Er interviewt Luigi Gioia, einen Benediktinermönch in Rom: „Einem Homosexuellen erscheint die Kirche als stabile Struktur … wenn man sich verbergen muß, sich sicher fühlen will, das Gefühl braucht, daß der Kontext sich nicht bewegt. Man möchte, daß die Struktur, wo man Zuflucht gesucht hat, stabil ist und Schutz bietet, und dann kann man sich frei in ihr bewegen. Aber Franziskus, der die Kirche reformieren will, hat die Struktur für die heimlich homosexuellen Priester instabil gemacht. Das erklärt ihre aggressive Reaktion und ihren Haß auf ihn. Sie haben Angst.“
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Die Tatsache, daß Bergoglio vor seiner Wahl zum Papst so selten in Rom war, hatte ihre Vorteile. Er stieg die vatikanische Leiter nicht empor, er sammelte unterwegs keine Informationen über das Privatleben von Kardinälen. Er wurde nicht Teil eines Flüsterzirkels, er nährte sich nicht von Andeutungen. Doch seine Distanz zu all diesem bedeutete auch, daß er zu Beginn seines Pontifikats tatsächlich zu glauben schien, es könne eine aufrichtige, robuste Debatte unter Kardinälen und Bischöfen über das private Sexualleben anderer Menschen geben, Geschiedene und Homosexuelle eingeschlossen. All das Augenzwinkern, Nicken, die Ausflüchte, das geheime Wissen, all diese sich kreuzenden Netzwerke und Doppelleben stimmen kaum überein mit der Klarheit und Durchsichtigkeit der Ziele und Zwecke, wie sie der Himmlische Vater fordert, den selbst die lasterhaftesten Prälaten regelmäßig anrufen.
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