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Lettre International 134, Kubra Khademi
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LI 134, Herbst 2021

Mit Eisbergen jonglieren

Die Leichtigkeit des Spiels und das Sein auf der Bühne

Frank M. Raddatz: Frau Winkler, Sie üben seit mehr als fünfzig Jahren den Beruf der Schauspielerin aus. Wie verändert sich das Spiel mit der Zeit?

Angela Winkler: Ich denke mehr. 1969, bei den Aufnahmen zu Jagdszenen aus Niederbayern, sollte ich einen Berg hinunterlaufen, auf dem verstreut Heuhaufen standen. Ich rannte los und habe die Heuballen, die mir im Wege standen, einfach umgeworfen. Wenn ich heute diesen Berg herunterlaufen müßte, würde ich diese wahrnehmen, bevor ich starte, und mir überlegen, ob ich sie überrennen sollte oder lieber umkreisen oder einfach geradeaus stürmen. Damals bin ich einfach losgerannt und habe sie instinktiv umgeschmissen. Ich dachte nicht daran, welche Möglichkeiten es sonst noch geben könnte. Für die Rolle war das genau richtig. Heute ist mein Spiel viel variantenreicher als am Anfang. Mit meiner Stimme kann ich heute bedeutend mehr gestalten als früher.

Frank M. Raddatz: Sie wägen also zwischen den Möglichkeiten ab!?

Angela Winkler: Ja, weil ich mehr über den Beruf weiß, und weil ich genau sein will. Ich mache mir mehr Gedanken über die Situation und die Rolle des Mitspielers. Ich empfinde das allerdings nicht immer als Zugewinn. Im Gegenteil: Meine Möglichkeiten sind eingeschränkter. Ich kann heute nicht mehr so schnell laufen wie damals. Heute stehe ich ständig vor Entscheidungen, während ich früher spontaner gehandelt habe.
     In Salzburg, wo ich gerade die Mutter im Jedermann gespielt habe, fiel mir auf, mit welcher Energie und welchem körperlichen Einsatz sich junge Menschen heute in ihre Rollen werfen. Auch die Art, wie sie mit dem Text umgehen und wie ich mit dem Text umgehe, ist verschieden.

Frank M. Raddatz: Sie behandeln den Text wie eine Partitur, mit Zäsuren, Tonhöhenwechseln, Pausen, wodurch er eine Musikalität bekommt und regelrecht plastisch wird.

Angela Winkler: Ich lese, lese, lese und versuchte, mir so die alte Sprache Hofmannsthals anzueignen, um zu verstehen, was in dem Stück gesagt wird. Viele der alten Worte sind nicht mehr im Gebrauch und waren mir fremd. Erst hat mich die Reimform gestört, weil ich unsicher war, ob der Autor die Worte nur wegen des Reims gewählt hat. Je mehr ich aber las und mein persönliches Erleben mit dem Text verbinden konnte, um so mehr fing ich an, diesen Text zu lieben und wollte ihn immer genauer sprechen. Dadurch, daß ich den Text auf diese Weise verinnerlicht habe, wurde er leichter und lebendig. Aber es war ein langer Weg dorthin.

(…)

Frank M. Raddatz: Sie verfügen über die seltene Qualität, die Bühne mitunter für Jahre loslassen zu können. In der Regel bricht Panik und Hysterie aus, wenn sich nicht ein Projekt an das nächste reiht.

Angela Winkler: Ich habe immer zu vermeiden versucht, eine Rolle nach der anderen zu spielen. Ich mußte nach den Arbeiten erst wieder nach Hause, aufs Land zu meiner Familie. Das Spielen wird schnell zur Routine. Wenn man nur das Theater hat, wächst außerdem auch die Gefahr, daß man irgendwann betriebsblind wird.
     Im Grunde ist Theater permanenter Streß. Nicht nur der Streß vor der Premiere. Ständig geht es hin und her zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Gestern hattest du eine wahnsinnig schöne Probe und denkst: „Das ist es. Jetzt habe ich die Szene ganz genau!“, und am nächsten Tag denkst du: „Ich weiß überhaupt noch nichts. Das stimmt doch alles nicht!“ So ist es auch mit neuen Rollen. Die ganze Erfahrung, die ein Schauspieler im Laufe der Jahre angesammelt hat, nützt ihm nicht viel. Er fängt immer wieder von vorne an.

(…)

Frank M. Raddatz: Sie verfügen in bezug auf sich selbst über eine große Instinktsicherheit und wissen, was Ihnen guttut und was nicht.

Angela Winkler: Ich weiß nur, daß ich eine gewisse Sturheit habe und weiß, was ich brauche. Mein Instinkt ist wie ein kleines Baby, das schreit: „Ich will leben!“ Wie dieser Angsttrieb, der aus manchen Bäumen irgendwo aus dem Stamm hervortreibt. Irgendwann kommt die städtische Maschine und sägt ihn ab, weil er zu stark wird. Diese Gefahr lauert auch im Theaterbetrieb, nämlich daß das Spielen auf Kosten des Lebens stattfindet. Instinkt besitzt einer, der nicht so viele Nebenwege geht, oder?

Frank M. Raddatz: Oder Nebenwege geht und dann wieder aus der Irre zurückfindet. Vielleicht auch das Vertrauen, daß er nicht ins Abseits gerät, weil sich, wie in Ihrem Fall, die Theater wieder melden werden, auch wenn man sich einige Zeit um die Familie gekümmert hat und mit der Apfelernte beschäftigt war.

Angela Winkler: Ich habe eigentlich nie darauf gewartet, weil ich außerhalb des Theaters sehr viel zu tun habe, was mir wichtig ist. Aber immer zur rechten Zeit kam ein besonderes Angebot, wie eine Praline. Ich glaube, für so eine Einstellung gegenüber dem Leben und dem Beruf braucht es Mut. Ich habe immer das Glück gehabt, die richtigen Leute zur rechten Zeit zu treffen. Erst Hans Dieter Schwarze, den Intendanten des Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel, wo ich mich zwei Jahre ausprobieren konnte. Dann kam der Film Jagdszenen aus Niederbayern, der mich bekannt machte. Ich habe drei Briefe geschrieben. Einer war an Peter Stein, und so kam ich an die Schaubühne. Ich hatte ein Wollen, war nicht ehrgeizig. Ich war jung und süß und wollte unbedingt Schauspielerin werden, war aber ganz scheu, so daß ich regelrecht an die Rampe gezogen werden mußte. Wäre Heinrich Böll nicht nach Castrop-Rauxel gekommen, hätte ich nie die Hauptrolle in dem Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Volker Schlöndorff gespielt. Daraufhin kam es 1979 zur Blechtrommel. Und so ging es weiter.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.